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Archiv der Kategorie: auf der Couch

See-rious

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See-rious

„Are you Siri-ous!?“ rief meine Schwester verblüfft.
„Nee, Siri, das glaube ich ja nicht!“
Selma schob energisch ihre kleine Feennähmaschine zur Seite und kam schnell zur Tür geflattert. Dicht beieinander versuchten wir gleichzeitig ein Blick  durch das viel zu kleine Schlüsselloch zu erhaschen.
Ein Vogel auf der Couch? „Hat Masterchen neuerdings einen Vogel, oder was geht hier ab?“ piepste Selma ungläubig.
Tatsächlich. Auf der Couch lag ein Vogel. Schön, groß und irgendwie traurig.

Was hat der denn? Warum hat wohl der Vogel Masterchen aufgesucht?
Als wir die klassiche Eröffnungsfrage „Was fehlt Ihnen denn?“ hörten, lehnten wir uns mucksmäuschen still zurück und lauschten. Und das hörten wir lüstern lauschend:
„Ich meine, warum sind Sie denn hier?“, hörten wir Masterchen mit seiner beruhigenden Therapeutenstimme fragen, „Flügellahm oder haben Sie einen Pieps, wenn ich mir dieses Wortspiel erlauben darf?“ Was wir jetzt hörten, verschlug uns die Sprache. Unser Vogel, ein Graureiher, bekam gar nichts mehr auf die Reihe und das kam so: Er hatte die anderen Vögel hinter vorgehaltenem Flügel piepsen gehört, dass es dort am Großmeer Reviere mit eins-A-Lage für Vögel gab. Das Wasser wurde stets von hilfreichen Menschen so reguliert, dass genug vorhanden war und erst das Futter … Georg der Reiher (der Name wurde von uns geändert) kam ins Schwärmen: Es geht die alte Vogelsage, die weit hinter Attars „Vogelgespräche“, eine der wesentlichen Weisheitsüberlieferungen der östlichen Vögel, dass dort Futter in Hülle von so einem Menschen, der wohl Warden hieß, bereitgestellt wurde, so dass einige Vögel bereits gesehen wurden, die zu schwer zum Weiterflug wurden. Zu der Zeit wusste der Reiher jedoch nicht, dass dies der Treffpunkt der Exhibitionistenkolonie war, wo Vögel aus Bequemlichkeit das Jagen verlernten. „Auch bei den Vögeln hat alles seinen Preis“, murmelte Masterchen fast unverständlich – auch wegen der geschlossenen Tür. Georg flog also in dieses Vogel-Schlaraffenland und zeigte sich nun fortwährend komischen Menschen, die so zwei Rohre mit Gläsern vor den Augen hielten,  um ihn besser zu betrachten. Georg flog hin und her und wie in den „Vogelgesprächen“ wurde seine Sehnsucht nach dem Wasser erfüllt und plötzlich zitierte er völlig korrekt, wie Siri sogleich flüsternd anmerkte, „einem Geschöpf wie mir genügt die leidenschaftliche Liebe zum Meer“ und etwas krächziger setzte er hinzu: „aber das Meer ist ein Element, das keine Treue kennt. Vertraue ihm nicht, sonst wird es dich letzten Endes überschwemmen.“ Damit hatte sich Georg verraten. Uns beiden war sofort klar, er ist schizophren geworden. Oder was meint ihr von einem Reiher, der augenscheinlich lesen kann? Woher sollte er sonst diese Überlieferung aus dem 13. Jahrhundert kennen? Masterchen dachte wohl wie wir, denn er fragte, wie er denn zu den Menschen stehe? Und da kam es heraus: Georg stellte sich oft vor, ein Mensch zu sein, ja, er stellte es sich ganz, ganz stark vor und in diesen Momenten wurde er zu einem. Und dazu noch zu einem Leser. Er hatte nämlich einem Vogelgucker „Birdy“ von William Wharton mit seinem langen Schnabel stiebitzt. „Und wenn ein Mensch zum Vogel werden kann, warum kann dann nicht auch ein Vogel zum Mensch werden?“, war seine Schlussfolgerung, als er den Roman ausgelesen hatte. So wurde er bisweilen zum Mensch wie auch einst der Kalif Storch zum Vogel wurde. Während dieser Schübe konnte er also lesen, was ihn jedoch nur umso mehr verwirrte, wie ihr gleich seht. Herr Reiher begann fürderhin die Menschen zu beobachten, wie sie ihn beobachteten. Ihm fiel auf, dass diese Menschen den Vögeln gar nicht so fern stehen: Birdwatcher treten im Schwarm auf, wechseln schnell die Orte und sitzen auch bisweilen in Bäumen. Aber fliegen können sie doch nicht“, warf Masterchen ziemlich untherapeutisch, wie wir fanden, ein. „Na doch!“, antwortete Georg, „sie haben für alles Maschinen.“ Dennoch gab Reiherchen nach einiger therapeutischer Intervention zu, dass Menschen nicht fliegen können und wer es versucht, endet wie dieser Schneider von Ulm, den schon Brecht ein Gedicht widmete. Dann kam ein Rückschlag:  „Und überhaupt“, meinte Herr Reiher triumphierend, „Harry Potters Eule Hedwig und Hans Huckebein der Unglücksrabe besitzen doch auch menschliche Züge wie schon Hugin und Munin bei den Germanen.“ Aber etwas später kam der erste Durchbruch. Reiherchen erkannte, dass unbeflügelte Wesen wie die Menschen, keinen Überblick haben. Deswegen stiften sie auch diese Verwirrung in der Natur. Dem stimmten wir geflügelten Buchfeen stumm nickend zu. Sagte nicht Masterchen einst „es irrt der Mensch, solange er denkt“? Und dieser Reiher war zum verwirrten Irrenden geworden, dem Masterchen als Mensch wenig helfen kann.  So sehen wir das. Aufschlussreich spannend fanden wir jedoch, was Reiherchen noch weiter bei den Menschen erkannte. „Menschen sind see-rious, alles müssen sie beäugen. Sie lieben den Kampf wie wir Vögel und …“ Ja, liebe Leserin und lieber Leser, das Weitere konnten wir leider nicht verstehen, da es von flattrigen Flügelgeräuschen überdeckt wurde.

Wir sprachen noch lange darüber, ob die Welt nicht von den Vögeln abstammt. Heißt es nicht in alten Schöpfungsberichten der Ägypter und Hindus „Am Anfang war das Ei“? Und Helena, die schönste Frau der Antike, soll auch aus einem Ei geboren worden sein, aber das wusste Georg Reiher nicht, sonst wäre er wohl noch größenwahnsinnig geworden und zum Glück hat Georg auch nicht das finnische Nationalepos „Kalevala“ gelesen, in dem unser ganzes Universum aus einigen Eiern (allerdings der Ente) entstanden ist.

Aber Ende gut, alles gut. 90 Minuten später sahen wir den Reiher mit hochgerecktem Kopf fröhlich davon fliegen.
„Sea you!“ verabschiedete sich Masterchen.
Jetzt musste Georg nur einige Edelfische vorbeibringen, um Masterchen zu bezahlen.

Ganz liebe Grüße aus dem Vogelparadies
Siri & Selma, Buchfeen 🙂 🙂

Masterchen lässt auch lieb grüßen und vielen Dank an die liebkluge Dina Bilderfee für die Idee xxx

Rauchen. Ein Fall für Sigmund Freud und Sherlock Holmes

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Rauchen. Ein Fall für Sigmund Freud und Sherlock Holmes

Nachdem seine Schriften öffentlich verbrannt und seine Lehre als jüdische Perversion verboten worden war, flüchtete Professor Freud nach London. Im Norden der City, am Fuß von Primrose Hill, richtet sich Freud sein neues Heim in der Elsworthy Road 39 ein, wie Watson zu Toast mit bitterster Orangenmarmelade las.
Watson hält inne, trinkt einen Schluck seines starken Tees mit Milch, ehe er beginnt, vorsichtig seinen Mitbewohner anzusprechen: „Holmes, my dear fellow, sollten Sie nicht Ihrem berühmten Wiener Kollegen Ihre Aufwartung machen. Herr Professor Freud hat knapp eine halbe Stunde von uns entfernt sein Domizil bezogen, wie es die Morgenzeitung berichtet.“

Natürlich wusste Watson nicht nur, dass Freud einige Sherlock-Holmes-Geschichten mit Genuss gelesen hatte, sondern auch, dass er sich nach der Lektüre hinreißen ließ, den Psychoanalytiker, also auch sich, als Detektiv, der im Dunkel des Unbewussten Indizien sucht, zu sehen. Freud erwähnte dies in Briefen an Jung und Fliess, wenn er sich recht erinnerte. Und war es nicht auffallend, wie Holmes als auch Freud sich auf ihre Beobachtungen verließen, um einen Fall zu lösen. Die geradezu übersinnliche Fähigkeit der beiden, Beobachtungen und Spekulationen zu Tatsachen werden zu lassen, die in verblüffender Weise zutreffen, hatte Watson schon immer fasziniert. Erforschten nicht beide, etwas fanatisch, wenn er sich diese Wertung erlauben durfte, die Abgründe menschlicher Existenz? Bei Freud lag das Opfer auf der Couch, bei Holmes lag es auf dem Boden. Er war sicher, Freud und sein Herr sind des gleichen Geistes Kind.

Der Meisterdetektiv griff zu seiner würzigen Arcadia Mixture, mit der er seine gebogene Pfeife versonnen stopfte. Nach den ersten Rauchwolken entfloh ein gedehntes „Hm“ seinen Lippen, dann Schweigen.

Eines Nachmittags Ende Juni 1938 nahm Paula Fichtl Mister Holmes seinen komischen Hut ab und geleitete ihn zu Freuds Arbeitszimmer.
„Mein lieber Mister Holmes“, begrüßte ihn Freud mit einer verführerisch duftenden Zigarre in der Hand und wies Paula an, doch Gebäck und Kaffee für sich und seinem „hochgeschätzten Gast“ zu servieren.
„Sie gestatten mir die Freiheit, meine Pfeife anzustecken, werter Herr Professor.“
„Nur zu Mister Holmes, lassen Sie unseren blauen Dunst sich vermischen, auf dass er unser Denken von äußerlichen Störungen abschirmt.“ Ironisch setze der alte Mann nach einer Weile hinzu: „Aber sein Sie vorsichtig, machen Sie es nicht wie dieser abtrünnige Doktor Jung, der fast seinen Schreibtisch angezündet hätte, als ihm einschlafend seine brennende Pfeife aus dem Mund fiel.“
Holmes und Freud plauderten statt über das Wetter über ihre große Leidenschaft, das Rauchen. Freud bekannte, obwohl er mit den dunkelsten Winkeln der Psyche vertraut war, dass er öfter erfolglos versucht habe, sich das Rauchen abzugewöhnen. „Ja, mein lieber Holmes, ich kann mit Mark Twain behaupten: ‚Das Rauchen abgewöhnen? Nichts einfacher als das. Ich muss es schließlich wissen, denn ich habe es schon tausendmal getan.‘“ Damit war das Eis zwischen den beiden gebrochen.
Holmes berichtete mit stolzem Understatement, dass in seinem Metier das Rauchen Tradition habe. „Wissen Sie, werter Herr Professor, geht nicht alles auf die Vergangenheit zurück? Ich glaube, wenn ich mir dies zu sagen erlauben darf, noch vor unsere Geburt. Ich bin ein Nachfahre von Poes Detektiv Auguste Dupin, der in der Ruhe seines Studierzimmers rauchend nachdachte. Und all unsere Enkel rauchen. Bei Dashiell Hammett und Raymond Chandler wird so viel geraucht, dass schon ihre Kriminalromane nach Tabak duften. Jedoch, was ich höchst bedaure, es wird nicht mehr stilvoll die Pfeife oder Zigarre in Ruhe genossen, sondern Chandlers Detektiv Marlowe greift zur Camel in kritischen Situationen und nicht nur dann. Sein Kollege Samuel Spade aus Hammetts Krimis dreht sich seine Zigaretten selbst wie auch dieser Frédéric Moreau, der völlig andersartige Held aus Flauberts „Lehrjahre des Herzens“, und zwar mit diesem starken Bull-Durham-Tabak, was der Autor wie eine Anweisung für das Zigarettendrehen beschreibt. Bei Moreau wundert mich das keineswegs, denn Flaubert, sein Vater, starb rauchend – aber nicht am Rauchen.“

„Zwangsneurotiker würde ich vermuten, ich kenne Herrn Spade zwar nicht persönlich, aber nehme eine orale Störung an. Vielleicht zu früh der Mutterbrust entfernt worden, oder hatte er keine Mutter, wie es bei jenen fiktiven Gestalten in Mode kommt? Wie dem auch sein, deswegen ist der Herr beziehungsunfähig, würde ich folgern. Wohnt nicht der Gestik des Drehens eine geheime Erotik inne, die sich selbst genügt und keines anderen Objekts bedarf. Und das Stopfen der Pfeife, Mister Holmes, bedarf wegen seiner Eindeutigkeit wohl keiner Interpretation.“

Nachdem man sich über den blauen Dunst näher gekommen war, musste das kommen, was Holmes befürchtet hatte, Freud fragte nach seiner Familie. Familie, das war freilich unbekanntes Land, ja, gefährliches Land für Holmes, der sich in seinem ganzen Leben nur einmal, und das noch unglücklich, in Ilse von Hoffmanstal, eine deutschen Spionin, verliebt hatte.
Holmes begann unsicher: „Ich habe einen älteren, hochbegabten Bruder Mycroft, der als Regierungsberater arbeitete und den Diogenes Club gründete, der dafür berüchtigt ist – wenn Sie es nicht bereits wissen, werter Herr Professor – dass er nur die ungeselligsten Männer Londons aufnimmt. Mein Assistent Dr. Watson meint in ‚Der griechische Übersetzer‘ herausbekommen zu haben, dass meine Großmutter die Schwester des französischen Militärmalers Horace Vernet war.“ Nach einigen Zügen an seiner Pfeife gestand er leise: „Ich bin jedoch vater- und mutterlos.“

Das war Freud noch nie begegnet, ein Mann ohne Eltern, naja, das neue Zeitalter war verrückt, Musil hatte den Mann ohne Eigenschaften geboren, aber ein Mann ohne Eltern … Freud begann zu schwitzen, das implizierte, dass dieser Mister Holmes keine ödipale Phase durchlebt hatte, sich also untauglich für die Analyse erwies. „Immer diese Engländer, sie sind in der Tat different, very much so“, murmelte Freud leise vor sich hin. Laut begann er sich jedoch seinem neuen Steckenpferd zuzuwenden: „Sind Sie als Detektiv, Mister Holmes, nicht im intensiven Maße vom Tod fasziniert? Er zieht Sie an, Sie wollen ihn verstehen, wo eine Leiche ist, da kommen Sie, wenn ich das so ausdrücken darf?“
Holmes nickte unmerklich.
„In uns allen wirkt dieser Todestrieb, der Trieb sich aufzulösen in die perfekte Entspannung wie beim idealisierten Orgasmus. Dieser Professor James Moriarty, Herr Doktor Jung hätte von Ihrer Schattenseite gesprochen, hat der Sie nicht an den Reichenbachfällen in den Tod getrieben? Aber Sie konnten nicht loslassen, nein, gleich Jesus dem Erlöser, erschienen Sie wieder, um sich erneut den Gefahren und der Lust des Todes auszusetzen. Als eine unsterbliche Figur, als die Sie mir entgegentreten, wird Ihnen das auch noch häufig gelingen – nicht beneidenswert. Der weise Cheiron verzichtete auf die Unsterblichkeit, Sie sind jedoch verdammt dazu, ewiges Symbol des Bekämpfers des Bösen zu sein.“
Freud rührte in seinem Kaffee, schnitt sich eine neue Zigarre an, und betrachtete Holmes durch blitzend runden Augengläser: „Da hat doch ein Schreiber, Nicholas Meyer oder so ähnlich, in seinem Buch ‚Kein Koks für Sherlock Holmes‘ indiskret Kokain mit uns beiden in Zusammenhang gebracht. Ja, dieser kulturzersetzende Narzissmus der Amerikaner, denen kein Geheimnis heilig ist, die Unbefriedigten, die wie Ahasveros, jener wandernde Jude, ewig irrend etwas suchen, paranoid …
„Auch mein Assistent,“ unterbrach ihn Holmes, „dieser Watson, ein passabler Kerl, nur manchmal zu besorgt, hat in ‚Das gelbe Gesicht“ behauptet, dass ich eine unbedenkliche Dosis Kokain – er ist Arzt und kann das beurteilen – zur Entspannung ab und an genießen würde. Dennoch behauptet Meyer in Verkehrung der Tatsachen, Watson hätte mich zu Ihnen geschickt, um von der Sucht geheilt zu werden, mit der Sie, werter Professor, vertraut sind. Alles Lüge! Ich komme zu ihnen als Kollege, wenn ich das so sagen darf, der an der Sprache der Zeichen interessiert ist.“
„Erleben Sie, verehrter Mister Holmes, nicht an Doktor Watson den Ödipuskomplex, den sie nie erleben duften? Der Sohn verrät den Vater, die ewige Geschichte … Fürchten Sie sich vor dem Vatermord, auch wenn Sie als unsterblich gelten, was dieser Schweizer Jung übrigens als Inflation beschrieb, ein Euphemismus für den Untergang. Ich weiß nicht, ob es Ihnen zu Ohren kam, aber dieser Rubenfeld plauderte in ‚Morddeutung‘ aus, wie sich auf Ihrem Gebiet meine Methode bewährte. Fast könnte man denken, unsere Methoden ähneln sich, da sie aus dem Schoß des gleichen Zeitgeistes entsprungen sind. Auch dieser Herr Kachler, der meine Lehren bis hin zur Lebenshilfe verstümmelte, ließ in seinem Roman ‚Traummord‘ diesen Kommissar Maurer mit meinen Theorien über den Mord am psychologischen Institut nachdenken, zum Glück wagt er es nicht, mich selbst auftreten zu lassen, wie Yalom es in „Und Nietzsche weinte“ tat, sondern er fantasiert fiktive Gespräche. Ich hätte mich niemals als Detektiv ständig nur mit diesem impertinenten Jung gestritten – wie dem auch sei, ich stehe ihrer Profession nicht fern.“
Nach einem „in der Tat!“ von Holmes fragte listig Freud, ob der Meisterdetektiv sich nicht vorstellen könnte, ein Meistergauner zu sein.
„Diese Frage“, antwortete Holmes lächelnd, „stellte mir auch Doktor Watson. Ich antwortete mit einem klaren Ja. Aber unter uns, werter Herr Professor, auch in Ihnen wirkt dieser Drang, der Fiktionales und Reales in Ihren Werken sich vermischen lässt oder lassen sie es uns treffender formulieren, die Fiktion hilft der Erkenntnis des Realen.“

Mit diesen Worten erhob sich Holmes und verabschiedete sich von dem alten Herrn.

(Infos auf diesem Blog zu Conan Doyle und Sherlock Holmes und den Hund von Baskerville)

Die Titanic auf der Couch

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Die Titanic auf der Couch

„The Liner She`s a Lady“
Rudyard Kipling

Siri und der Master stehen nicht auf große Schiffe.
„Diese riesigen Ocean-Liner sind Ansammlungen von Läden, Shops und Fitnessgedöns, da kann ich doch gleich im Einkaufscenter Urlaub machen – und richtig schaukeln tut`s auch nicht bei all diesen Stabilisatoren. Amüsement für weicheiige Landratten ohne Fluchtmöglichkeiten ist das!“ ruft Siri empört, als der Master sie bittet, an einem Artikel zum hundertsten Jahrestag des Untergangs der Titanic mitzuarbeiten.

Selma ist anders. Sie kann sich fein herausgeputzt köstlich beim Captain`s Dinner amüsieren und weiß durchaus das angenehme Bordleben zu genießen. Den anderen beiden wirft sie, nur im Stillen freilich, vor, dass ihre Vorstellung von der Seefahrt beim Odysseus (deswegen heißt Masters Boot auch Circe!) und Sindbad, dem Seefahrer aus Tausendundeine Nacht, stehen geblieben ist. Sindbad und Odysseus erleiden zwar ständig Schiffbruch, allerdings einen romantische Schiffbruch mit Happy End – aber ist nicht diese Hollywood-Verfilmung des Untergangs der Titanic nicht auch schön schaurig romantisch? Es gibt so viele Schiffsbrüche der des Robinson z.B. und der von Erica Jongs Fanny, um die pikantere Art des Schiffbruchs zu erwähnen. Sein wir doch ehrlich, wir erleiden alle Schiffbruch (klagten schon die griechisch-römischen Klassiker) und sei`s mit einem Glas Champagner in der Hand, wie`s der Mythos von der untergehenden Titanic mit seiner Liebe zum fiktionalen Detail ausmalt.
Im großartigsten aller Schiffbrüche zu schwelgen, das ist reine Schadensfreude, da es glücklicherweise die anderen traf.

Nach diesen geheimen Gedanken schlägt Selma vor, im Nordregal der Bibliothek sich die bebilderte Ausgabe von Terry Colemans Buch „The Liners“ anzuschauen. Es ist die Erstausgabe von 1976, auf deren Schutzumschlag der Liner Normandie mit einer hochhausstrotzenden Großstadt verglichen wird. Und was zeigt die erste Abbildung dieser Geschichte der Atlantiküberquerungen? Shopping auf der Galerie der Aquitania – als Frontispiz, dieser Illustration vor der Titelseite, die in älteren Büchern das Motto des Buches angibt. Das dritte Kapitel „The Greatest of the Works of Man“ ist der Titanic gewidmet, die in einer April-Nacht bei spiegelglatter See sank. Aufschlussreich, was man von der Titanic abbildet: Es beginnt mit Schwimmbad und Tennisplatz, gleich gefolgt von einer Art Fitnessraum, in dem man auf Schaukelpferden wohl gekleidet ritt, und dann zeigt sich fürstliche Prachtentfaltung an den elektrischen Aufzügen. Danach kommt das erste Bild, das vermittelt, auf einem Schiff zu sein zu sein, nämlich das Foto vom 2. Klasse Promenadendeck, übrigens ist auch hier kein Stückchen Meer zu sehen. Es geht weiter mit schlossartigen Treppen, Pariser Cafés, erst danach folgen die üblichen Bilder vom Untergang der Titanic.
Auch in anderen Büchern fällt auf, dass es bei den Abbildungen von Linern um die Darstellung des faszinierenden Luxus geht (insbesondere bei der Titanic, die „Millionaire`s Special“ genannt wurde und auf der die damals vier reichsten Männer der Welt umkamen), bei dem die See verdrängt wird, sie erscheint nicht im Bild. „Das ist doch klar!“, meint Siri, „Es geht um Kultur, die sich als Siegerin über die Natur versteht. Das grausam hungrige Meer ist Natur an sich, eben gerade das, was man im Wahn der Gründerzeit als produktionsstörend zu eliminieren versuchte.“

Keine Angst, so hochtrabend pflegt Siri sonst nicht zu sprechen, aber vielleicht lag`s am Gin Tonic, dass der Master noch eins drauf setzt: „Die Titanic wäre doch der Lieblingspatient von Freud gewesen – wenn sie auf die Couch gepasst hätte. Das Verdrängte wird des Verdrängenden Untergang. Dass es mit der Titanic ein schlechtes Ende nehmen musste, wäre Freud völlig klar gewesen, da sie seit ihrem Embryostadium himmelhoch gelobt wurde. Ja, schon ihr Name drückt eine Inflation aus, sie wird gottgleich, womit sich bedrängende Erwartungen verbinden. Eine klassisch neurosebildende Kindheit wäre die Diagnose und was soll da anderes herauskommen, als diese protzende Titanic, das verzogene Luxusweib unter den Schiffen. Als sie dann in See sticht – Freud würde seine runde Brille putzend etwas vom Mechanismus der Umkehrung murmeln, mit dem dieser schamhafte Zensor der Psyche die plump sexuelle Anspielung macht, dass die See sie sticht. ‚Ein Entjungferungssymbol!‘ würde er freudig ausrufen und daran erinnern, dass die Titanic bei ihrer Entjungferung, die ja eine Jungfernreise darstellt, untergegangen ist.


Jung, der zusammen mit Freud auf dem Liner George Washington (der per Funk die Titanic vor dem Eisberg warnte) drei Jahre vor dem Untergang der Titanic auf ähnlicher Route den Atlantik überquerte, wäre jetzt richtig in Fahrt gekommen (er war ein aufbrausend leidenschaftlicher Charakter). Alter Tradition folgend, liebte er die verschlingende See als Metapher für das Unbewusste. Er hätte diesen Untergang der Patientin Titanic als ersten Schritt der Individuation gesehen, Befreiung aus der Einseitigkeit der von Ideen und Ansprüchen geprägten Kindheit. Weil diese Kindheit einseitig vom Geist geprägt war, schlägt an der Grenze zum Frausein das Pendel um, und die Titanic gibt sich grandios hin. Sie versinkt in den spiegelglatten Fluten des Unbewussten („stille Wasser gründen tief!“) – und ragt nicht am Ende das Heck der Titanic phallischtriumphierend wie der pater potestas aus dem Wasser?

Jung würde mit großer Geste und rotem Kopf fortfahren, dass dieser Untergang die Sehnsucht nach absoluter Hingabe ausdrücke, worauf Freud triumphierend ausriefe: ‚Ich sagte es doch schon immer, Eros und Thanatos gehören zusammen. Die Franzosen wissen das, sie nennen den Orgasmus den kleinen Tod. Und ein großer Orgasmus ist entsprechend dem großen Tod verbunden.‘

Natur siegt über Kultur, darin waren sich Freud und Jung einig. Archetypisches wirkt über seine verblüffende Einfachheit, führt der Master oberlehrerhaft aus und elaboriert erklärt er, dass deswegen der Mythos „Titanic-Untergang“ bis heute noch die Gemüter bewegt. Er lässt sich gar dazu hinreißen, sich der kühnen Ansicht von Alyssa Freitas und Lawrence Lufkin (Titanic and Nautical Resource Center) anzuschließen, dass nämlich der Untergang der Titanic für die USamerikanische Öffentlichkeit ähnlich wie die Zerstörung des World Trade Centers am 11. Spetember wirkte.

Selma erzählt zum Abschluss des Abends noch eine erstaunliche Geschichte, die von der Eisbrecherstation in St. Johns/Neufundland dokumentiert wurde: 1935 fuhr der Seemann William Reeves, der am Tag des Untergangs der Titanic geboren wurde, auf dem Frachtschiff Titanian über die Stelle des Titanic-Unglücks und dass auch noch im April, die See war wie damals spiegelglatt. Als Reeves, der in der Nacht im Ausguck Wache hielt, das alles bewusst wurde, schlug er aus einem Gefühl der Panik heraus Alarm. Gerade noch rechtzeitig konnte die Titanian vor einem riesigen Eisberg stoppen. Da der jedoch im Stadium des Zerfalls begriffen war, musste das Frachtschiff aus einem gefährlichen Eisfeld von Eisbrechern von St. Johns gerettet werden.

„Ist das irgendwie so wie beim Bermuda-Dreieck?“, fragt Selma am Schluss ganz flattrig, „Eine Stelle, an der das Meer nicht befahren werden möchte? Oder leben dort vielleicht die Nixen und Wassermänner, die sich so ihre Geliebten holen?“
Der Master hält all dieses für Seemannsgarn, für Tollheiten der Psyche.
„Auch `ne Verdrängung“, meint Siri trocken.

Herzliche Grüße aus sunny Norfolk und vielen Dank an Dina für die Bilder und Ideen

In einem der nächsten Blogbeiträge werden Siri oder der Master über den Untergang der Titanic im Roman berichten.