
„Are you Siri-ous!?“ rief meine Schwester verblüfft.
„Nee, Siri, das glaube ich ja nicht!“
Selma schob energisch ihre kleine Feennähmaschine zur Seite und kam schnell zur Tür geflattert. Dicht beieinander versuchten wir gleichzeitig ein Blick durch das viel zu kleine Schlüsselloch zu erhaschen.
Ein Vogel auf der Couch? „Hat Masterchen neuerdings einen Vogel, oder was geht hier ab?“ piepste Selma ungläubig.
Tatsächlich. Auf der Couch lag ein Vogel. Schön, groß und irgendwie traurig.
Was hat der denn? Warum hat wohl der Vogel Masterchen aufgesucht?
Als wir die klassiche Eröffnungsfrage „Was fehlt Ihnen denn?“ hörten, lehnten wir uns mucksmäuschen still zurück und lauschten. Und das hörten wir lüstern lauschend:
„Ich meine, warum sind Sie denn hier?“, hörten wir Masterchen mit seiner beruhigenden Therapeutenstimme fragen, „Flügellahm oder haben Sie einen Pieps, wenn ich mir dieses Wortspiel erlauben darf?“ Was wir jetzt hörten, verschlug uns die Sprache. Unser Vogel, ein Graureiher, bekam gar nichts mehr auf die Reihe und das kam so: Er hatte die anderen Vögel hinter vorgehaltenem Flügel piepsen gehört, dass es dort am Großmeer Reviere mit eins-A-Lage für Vögel gab. Das Wasser wurde stets von hilfreichen Menschen so reguliert, dass genug vorhanden war und erst das Futter … Georg der Reiher (der Name wurde von uns geändert) kam ins Schwärmen: Es geht die alte Vogelsage, die weit hinter Attars „Vogelgespräche“, eine der wesentlichen Weisheitsüberlieferungen der östlichen Vögel, dass dort Futter in Hülle von so einem Menschen, der wohl Warden hieß, bereitgestellt wurde, so dass einige Vögel bereits gesehen wurden, die zu schwer zum Weiterflug wurden. Zu der Zeit wusste der Reiher jedoch nicht, dass dies der Treffpunkt der Exhibitionistenkolonie war, wo Vögel aus Bequemlichkeit das Jagen verlernten. „Auch bei den Vögeln hat alles seinen Preis“, murmelte Masterchen fast unverständlich – auch wegen der geschlossenen Tür. Georg flog also in dieses Vogel-Schlaraffenland und zeigte sich nun fortwährend komischen Menschen, die so zwei Rohre mit Gläsern vor den Augen hielten, um ihn besser zu betrachten. Georg flog hin und her und wie in den „Vogelgesprächen“ wurde seine Sehnsucht nach dem Wasser erfüllt und plötzlich zitierte er völlig korrekt, wie Siri sogleich flüsternd anmerkte, „einem Geschöpf wie mir genügt die leidenschaftliche Liebe zum Meer“ und etwas krächziger setzte er hinzu: „aber das Meer ist ein Element, das keine Treue kennt. Vertraue ihm nicht, sonst wird es dich letzten Endes überschwemmen.“ Damit hatte sich Georg verraten. Uns beiden war sofort klar, er ist schizophren geworden. Oder was meint ihr von einem Reiher, der augenscheinlich lesen kann? Woher sollte er sonst diese Überlieferung aus dem 13. Jahrhundert kennen? Masterchen dachte wohl wie wir, denn er fragte, wie er denn zu den Menschen stehe? Und da kam es heraus: Georg stellte sich oft vor, ein Mensch zu sein, ja, er stellte es sich ganz, ganz stark vor und in diesen Momenten wurde er zu einem. Und dazu noch zu einem Leser. Er hatte nämlich einem Vogelgucker „Birdy“ von William Wharton mit seinem langen Schnabel stiebitzt. „Und wenn ein Mensch zum Vogel werden kann, warum kann dann nicht auch ein Vogel zum Mensch werden?“, war seine Schlussfolgerung, als er den Roman ausgelesen hatte. So wurde er bisweilen zum Mensch wie auch einst der Kalif Storch zum Vogel wurde. Während dieser Schübe konnte er also lesen, was ihn jedoch nur umso mehr verwirrte, wie ihr gleich seht. Herr Reiher begann fürderhin die Menschen zu beobachten, wie sie ihn beobachteten. Ihm fiel auf, dass diese Menschen den Vögeln gar nicht so fern stehen: Birdwatcher treten im Schwarm auf, wechseln schnell die Orte und sitzen auch bisweilen in Bäumen. Aber fliegen können sie doch nicht“, warf Masterchen ziemlich untherapeutisch, wie wir fanden, ein. „Na doch!“, antwortete Georg, „sie haben für alles Maschinen.“ Dennoch gab Reiherchen nach einiger therapeutischer Intervention zu, dass Menschen nicht fliegen können und wer es versucht, endet wie dieser Schneider von Ulm, den schon Brecht ein Gedicht widmete. Dann kam ein Rückschlag: „Und überhaupt“, meinte Herr Reiher triumphierend, „Harry Potters Eule Hedwig und Hans Huckebein der Unglücksrabe besitzen doch auch menschliche Züge wie schon Hugin und Munin bei den Germanen.“ Aber etwas später kam der erste Durchbruch. Reiherchen erkannte, dass unbeflügelte Wesen wie die Menschen, keinen Überblick haben. Deswegen stiften sie auch diese Verwirrung in der Natur. Dem stimmten wir geflügelten Buchfeen stumm nickend zu. Sagte nicht Masterchen einst „es irrt der Mensch, solange er denkt“? Und dieser Reiher war zum verwirrten Irrenden geworden, dem Masterchen als Mensch wenig helfen kann. So sehen wir das. Aufschlussreich spannend fanden wir jedoch, was Reiherchen noch weiter bei den Menschen erkannte. „Menschen sind see-rious, alles müssen sie beäugen. Sie lieben den Kampf wie wir Vögel und …“ Ja, liebe Leserin und lieber Leser, das Weitere konnten wir leider nicht verstehen, da es von flattrigen Flügelgeräuschen überdeckt wurde.
Wir sprachen noch lange darüber, ob die Welt nicht von den Vögeln abstammt. Heißt es nicht in alten Schöpfungsberichten der Ägypter und Hindus „Am Anfang war das Ei“? Und Helena, die schönste Frau der Antike, soll auch aus einem Ei geboren worden sein, aber das wusste Georg Reiher nicht, sonst wäre er wohl noch größenwahnsinnig geworden und zum Glück hat Georg auch nicht das finnische Nationalepos „Kalevala“ gelesen, in dem unser ganzes Universum aus einigen Eiern (allerdings der Ente) entstanden ist.
Aber Ende gut, alles gut. 90 Minuten später sahen wir den Reiher mit hochgerecktem Kopf fröhlich davon fliegen.
„Sea you!“ verabschiedete sich Masterchen.
Jetzt musste Georg nur einige Edelfische vorbeibringen, um Masterchen zu bezahlen.
Ganz liebe Grüße aus dem Vogelparadies
Siri & Selma, Buchfeen 🙂 🙂
Masterchen lässt auch lieb grüßen und vielen Dank an die liebkluge Dina Bilderfee für die Idee xxx