Welttag der Meere, 8. Juni
Schlagwort-Archive: Robinson Crusoe
Martin`s Books
Ihr lieben Leser,
heute schreibt mein Freund Martin Haeusler über die Bücher, die ihn als Kind bewegten. Obwohl Martin äußerst belesen ist und wir zusammen eine Buchhandlung in Köln hatten, verkaufte er fast alle seine Bücher. Er ist einer der wenigen, die ich kenne, die viel lesen und gelesen haben, aber nicht von Büchern umgeben leben.
Martin betreibt den Blog „rumgekritzelt„, einen Blog voller kunterbunter Gedanken und Bilder. Besucht ihn mal.
Viel Spaß wünschen wir allen beim Lesen dieses Artikels
Klausbernd und seine munteren Buchfeen Siri und Selma
Dear Readers,
the following text is written by my friend Martin Haeusler about books he has read when being a child. Although Martin is very well read, and he did run a bookshop in Colgne with me, he sold nearly all of his books. He is one of few bookloving people who don`t live surrounded by books.
Martin runs the blog „herumgekritzelt„ – motley ideas and pictures. Have a look.
We wish you happy reading
Klausbernd and his chirpy Bookfayries Siri and Selma
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Das erste Buch, das mich wirklich bewegt hat, hätte das Zeug gehabt, mir Bücher überhaupt zu verleiden, und zwar auf Dauer. Weltliteratur! Ein Märchen, aber, weil von Hans Christian Andersen, zur Weltliteratur gehörend: „Das hässliche Entlein“. Ein Kinder-Bilderbuch. Müssen das hartgesottene Kinder sein, denen man so eine grausame Geschichte vorsetzen kann! Mir nicht, schließlich war ich ein sensibles Kerlchen. Trotzdem lasen mir meine Schwestern öfters aus dem Buch vor. So viele Bücher hatten wir ja nicht und immer nur der Struwwelpeter schien ihnen zu langweilig. Weit sind sie nie gekommen, denn spätestens an der Stelle, wo das hässliche Entlein ganz alleine in der Welt steht, brach ich in Tränen aus und wollte nichts mehr hören. Dass ich erst 50 Jahre später erfahren habe, dass das hässliche Entlein in Wirklichkeit ein schöner Schwan ist, wird mir jetzt wahrscheinlich niemand glauben. Stimmt aber. Und warum hat mich das Schicksal des hässlichen Entleins so berührt? So etwas kann nur fragen, wer nicht als einziger Junge mit vier älteren Schwestern aufgewachsen ist.
The first book really moving me could have spoiled all my love of reading – and that forever. But it`s a classic of literature written by the Danish author Hans Christian Andersen: „The Ugly Ducking“ – a picture book for children. Quite a cruel story for tough kids, indeed! But I have been a sensitive child. Nevertheless my sisters did read it to me quite often. Well, we didn`t had that much books and all time reading the stories of „Struwwelpeter“ was too much boring. With reading „The Ugly Duckling“ we never got far because I started crying and didn`t want hear the story any further. It took me 50 years to become aware of the ugly duckling being a beautiful swan. And you may ask why I haven been that much moved by the fate of the ugly duckling. You will asking that questing only if you are not risen as the only boy with four older sisters.
Da war mir „Aber Klärchen!“ schon lieber. Ein recht unbekanntes Kinderbuch, das Anfang der 50er Jahre nur in einer kleinen Auflage erschienen ist. Heute sind die wenigen Exemplare sehr begehrt, weil es sich dabei um Bildergeschichten handelt, um eine ursprünglich schon vor 1940 entstandene Art von Comics, sehr gut gezeichnet von M. Bertina, die auch den Graf Poldi erfunden hat. Kleine heitere Geschichten, mehr oder weniger harmlose Kinderstreiche, das war etwas für mich. Sogar eine prima Methode, wie man all zu viel überflüssige Körperreinigung vermeiden kann, wird da verraten!
I prefered „Aber Klärchen!“ (Hold on Clara!), a children`s book not much known. It was published in low circulation in the fifties. The few surviving copies are quite much wanted today. It`s a story in pictures, a kind of early comic strip drawn by M. Bettina who did invent Count Poldi (a famous comic figure in Germany) too. „Hold on Clara“ were funny stories and children`s jokes I really liked. I even learned how I could avoid unnecessary washing myself from this book!
Kinder lieben Bildergeschichten, ich auch. Comics kamen bei uns nicht ins Haus, die ersten Hefte von „Mickey Maus“ oder „Fix und Foxi“ fielen mir allenfalls mal bei Freuden in die Hand, bei uns gab es in dieser Richtung nur „Lurchis Abenteuer“, bei denen, wie das Beispiel zeigt, es manchmal auch recht wild herging. Die schmalen „Sigurd“-Hefte blieben mehr ein Gerücht, so etwas lasen endgültig nur die Schmuddelkinder, mit denen wir selbstverständlich nicht spielten. Gut, der germanische Held mit seiner tollen Tolle hätte es nicht unbedingt sein müssen, aber so ein paar von diesen neumodischen amerikanischen Comics, die meine Mutter nicht zu verstehen vorgab, hätten mir meine Kindheitsjahre schon versüßt.
Children love Comics, me too. But comics were forbidden at home. The first booklets of „Mickey Mouse“ or „Fix und Foxi“ (a German comic by Kauka) I could read at friend`s only. There were other German comics full of action as well. But those were only read by „the other ones“, children we didn`t play with, of course. My mother pretended always not to understand these modern American comic stories which would have sweetened my childhood.
Dabei kam er doch bald in Haus, der amerikanische Ungeist: Ausgerechnet in Gestalt einer Bibel. Mit 7 Jahren nämlich bekomme ich die „Tausend Bilder der Bibel“ geschenkt. Rein optisch glich diese frei nacherzählte Bibel sehr dem geliebten Klärchenbuch oder den Lurchis: viele Bilder, wenig Text. Die Bilder-Bibel kam aus dem Mutterland der Comics, die 1000 Bilder stammen von einer ganzen Riege von Illustratoren. Nur die Farbseiten der von R. Kirby herausgegebenen „Bible in Pictures“ hatte man sich bei der deutschen Lizenzausgabe gespart. Deutschland war ja arm, und wir waren es auch, deswegen wurde das Buch innerhalb der Familie weitergegeben. Der Vorbesitzer, mein Vetter Oskar, ist später als Missionar nach Afrika gegangen. Das habe ich nicht gemacht, aber die biblischen Geschichten habe ich oft und gerne gelesen.
Nevertheless the American non-culture entered our house soon. You wouldn`t believe it but it was in form of a bible. I got it given when I was 17: „Thousand Pictures of the Bible“ containing retold bible stories which were quite alike my beloved book of Clara. There were a lot of pictures and few text – quite similar to a comic book. Unfortunately the coloured pages by R. Kirby were left out in the German edition because of making the book too expensive. My family, as everyone in Germany, was poor therefore books were handed over within the family. I got this picture bible from my cousin Oskar who went as missionary to Africa later. This I didn`t do but I really loved to read these stories again and again.
Zur Erstkommunion bekam ich nicht nur einen Fotoapparat, sondern einen Stapel Bücher geschenkt: „Gullivers Reisen“ war darunter, auch der „Robinson Crusoe“ durfte nicht fehlen, eine Ausgabe mit Holzschnitten, die von Alfred Zacharias stammen, herrliche Illustrationen, von denen mir einige noch genau vor Augen stehen. Der Text war auch recht aufregend, aber am Schluss dann doch wieder nicht so recht.
For my first Communion I did not only got a camera but a lot of books as well like „Gullivers Travels“ and of course „Robinson Crusoe“ in a fine edition with woodcuts from Alfred Zacharias. These were beautiful illustrations I can still recall. The text was quite exciting, well, but the end not really.
Das war ganz anders bei einem anderen Buch, dass ich auch in dieser Zeit geschenkt bekommen habe. Leider weiß ich den Titel nicht mehr. Irgendwas mit Abenteuer in Afrika. Das war so aufregend, dass ich nur die Hälfte gelesen habe, dann noch ein Stück. Aber: Es ging nicht, das war zu viel für meine zarte Seele. Das Buch blieb stehen. Da habe ich dann doch lieber genauestens den neuesten Fleischmann-Katalog gelesen, meine Lieblingslektüre zu dieser Zeit. Wenn die Loks und Wagen der Firma Fleischmann nur nicht so teuer gewesen wären!
Another book was quite different. I got it as a gift around this time also – but I have forgotten its title. Wasn`t it something about an adventure in Africa? It was so exciting that I read half of it only, a little bit more later. But I couldn´t go on, it was too much for me. So I prefered reading catalogues about electric model trains. These became my favourite books – but what a pitty that those trains and waggons were so expensive.
Martin Haeusler
Die Titanic auf der Couch

„The Liner She`s a Lady“
Rudyard Kipling
Siri und der Master stehen nicht auf große Schiffe.
„Diese riesigen Ocean-Liner sind Ansammlungen von Läden, Shops und Fitnessgedöns, da kann ich doch gleich im Einkaufscenter Urlaub machen – und richtig schaukeln tut`s auch nicht bei all diesen Stabilisatoren. Amüsement für weicheiige Landratten ohne Fluchtmöglichkeiten ist das!“ ruft Siri empört, als der Master sie bittet, an einem Artikel zum hundertsten Jahrestag des Untergangs der Titanic mitzuarbeiten.
Selma ist anders. Sie kann sich fein herausgeputzt köstlich beim Captain`s Dinner amüsieren und weiß durchaus das angenehme Bordleben zu genießen. Den anderen beiden wirft sie, nur im Stillen freilich, vor, dass ihre Vorstellung von der Seefahrt beim Odysseus (deswegen heißt Masters Boot auch Circe!) und Sindbad, dem Seefahrer aus Tausendundeine Nacht, stehen geblieben ist. Sindbad und Odysseus erleiden zwar ständig Schiffbruch, allerdings einen romantische Schiffbruch mit Happy End – aber ist nicht diese Hollywood-Verfilmung des Untergangs der Titanic nicht auch schön schaurig romantisch? Es gibt so viele Schiffsbrüche der des Robinson z.B. und der von Erica Jongs Fanny, um die pikantere Art des Schiffbruchs zu erwähnen. Sein wir doch ehrlich, wir erleiden alle Schiffbruch (klagten schon die griechisch-römischen Klassiker) und sei`s mit einem Glas Champagner in der Hand, wie`s der Mythos von der untergehenden Titanic mit seiner Liebe zum fiktionalen Detail ausmalt.
Im großartigsten aller Schiffbrüche zu schwelgen, das ist reine Schadensfreude, da es glücklicherweise die anderen traf.
Nach diesen geheimen Gedanken schlägt Selma vor, im Nordregal der Bibliothek sich die bebilderte Ausgabe von Terry Colemans Buch „The Liners“ anzuschauen. Es ist die Erstausgabe von 1976, auf deren Schutzumschlag der Liner Normandie mit einer hochhausstrotzenden Großstadt verglichen wird. Und was zeigt die erste Abbildung dieser Geschichte der Atlantiküberquerungen? Shopping auf der Galerie der Aquitania – als Frontispiz, dieser Illustration vor der Titelseite, die in älteren Büchern das Motto des Buches angibt. Das dritte Kapitel „The Greatest of the Works of Man“ ist der Titanic gewidmet, die in einer April-Nacht bei spiegelglatter See sank. Aufschlussreich, was man von der Titanic abbildet: Es beginnt mit Schwimmbad und Tennisplatz, gleich gefolgt von einer Art Fitnessraum, in dem man auf Schaukelpferden wohl gekleidet ritt, und dann zeigt sich fürstliche Prachtentfaltung an den elektrischen Aufzügen. Danach kommt das erste Bild, das vermittelt, auf einem Schiff zu sein zu sein, nämlich das Foto vom 2. Klasse Promenadendeck, übrigens ist auch hier kein Stückchen Meer zu sehen. Es geht weiter mit schlossartigen Treppen, Pariser Cafés, erst danach folgen die üblichen Bilder vom Untergang der Titanic.
Auch in anderen Büchern fällt auf, dass es bei den Abbildungen von Linern um die Darstellung des faszinierenden Luxus geht (insbesondere bei der Titanic, die „Millionaire`s Special“ genannt wurde und auf der die damals vier reichsten Männer der Welt umkamen), bei dem die See verdrängt wird, sie erscheint nicht im Bild. „Das ist doch klar!“, meint Siri, „Es geht um Kultur, die sich als Siegerin über die Natur versteht. Das grausam hungrige Meer ist Natur an sich, eben gerade das, was man im Wahn der Gründerzeit als produktionsstörend zu eliminieren versuchte.“
Keine Angst, so hochtrabend pflegt Siri sonst nicht zu sprechen, aber vielleicht lag`s am Gin Tonic, dass der Master noch eins drauf setzt: „Die Titanic wäre doch der Lieblingspatient von Freud gewesen – wenn sie auf die Couch gepasst hätte. Das Verdrängte wird des Verdrängenden Untergang. Dass es mit der Titanic ein schlechtes Ende nehmen musste, wäre Freud völlig klar gewesen, da sie seit ihrem Embryostadium himmelhoch gelobt wurde. Ja, schon ihr Name drückt eine Inflation aus, sie wird gottgleich, womit sich bedrängende Erwartungen verbinden. Eine klassisch neurosebildende Kindheit wäre die Diagnose und was soll da anderes herauskommen, als diese protzende Titanic, das verzogene Luxusweib unter den Schiffen. Als sie dann in See sticht – Freud würde seine runde Brille putzend etwas vom Mechanismus der Umkehrung murmeln, mit dem dieser schamhafte Zensor der Psyche die plump sexuelle Anspielung macht, dass die See sie sticht. ‚Ein Entjungferungssymbol!‘ würde er freudig ausrufen und daran erinnern, dass die Titanic bei ihrer Entjungferung, die ja eine Jungfernreise darstellt, untergegangen ist.
Jung, der zusammen mit Freud auf dem Liner George Washington (der per Funk die Titanic vor dem Eisberg warnte) drei Jahre vor dem Untergang der Titanic auf ähnlicher Route den Atlantik überquerte, wäre jetzt richtig in Fahrt gekommen (er war ein aufbrausend leidenschaftlicher Charakter). Alter Tradition folgend, liebte er die verschlingende See als Metapher für das Unbewusste. Er hätte diesen Untergang der Patientin Titanic als ersten Schritt der Individuation gesehen, Befreiung aus der Einseitigkeit der von Ideen und Ansprüchen geprägten Kindheit. Weil diese Kindheit einseitig vom Geist geprägt war, schlägt an der Grenze zum Frausein das Pendel um, und die Titanic gibt sich grandios hin. Sie versinkt in den spiegelglatten Fluten des Unbewussten („stille Wasser gründen tief!“) – und ragt nicht am Ende das Heck der Titanic phallischtriumphierend wie der pater potestas aus dem Wasser?
Jung würde mit großer Geste und rotem Kopf fortfahren, dass dieser Untergang die Sehnsucht nach absoluter Hingabe ausdrücke, worauf Freud triumphierend ausriefe: ‚Ich sagte es doch schon immer, Eros und Thanatos gehören zusammen. Die Franzosen wissen das, sie nennen den Orgasmus den kleinen Tod. Und ein großer Orgasmus ist entsprechend dem großen Tod verbunden.‘
Natur siegt über Kultur, darin waren sich Freud und Jung einig. Archetypisches wirkt über seine verblüffende Einfachheit, führt der Master oberlehrerhaft aus und elaboriert erklärt er, dass deswegen der Mythos „Titanic-Untergang“ bis heute noch die Gemüter bewegt. Er lässt sich gar dazu hinreißen, sich der kühnen Ansicht von Alyssa Freitas und Lawrence Lufkin (Titanic and Nautical Resource Center) anzuschließen, dass nämlich der Untergang der Titanic für die USamerikanische Öffentlichkeit ähnlich wie die Zerstörung des World Trade Centers am 11. Spetember wirkte.
Selma erzählt zum Abschluss des Abends noch eine erstaunliche Geschichte, die von der Eisbrecherstation in St. Johns/Neufundland dokumentiert wurde: 1935 fuhr der Seemann William Reeves, der am Tag des Untergangs der Titanic geboren wurde, auf dem Frachtschiff Titanian über die Stelle des Titanic-Unglücks und dass auch noch im April, die See war wie damals spiegelglatt. Als Reeves, der in der Nacht im Ausguck Wache hielt, das alles bewusst wurde, schlug er aus einem Gefühl der Panik heraus Alarm. Gerade noch rechtzeitig konnte die Titanian vor einem riesigen Eisberg stoppen. Da der jedoch im Stadium des Zerfalls begriffen war, musste das Frachtschiff aus einem gefährlichen Eisfeld von Eisbrechern von St. Johns gerettet werden.
„Ist das irgendwie so wie beim Bermuda-Dreieck?“, fragt Selma am Schluss ganz flattrig, „Eine Stelle, an der das Meer nicht befahren werden möchte? Oder leben dort vielleicht die Nixen und Wassermänner, die sich so ihre Geliebten holen?“
Der Master hält all dieses für Seemannsgarn, für Tollheiten der Psyche.
„Auch `ne Verdrängung“, meint Siri trocken.
Herzliche Grüße aus sunny Norfolk und vielen Dank an Dina für die Bilder und Ideen
In einem der nächsten Blogbeiträge werden Siri oder der Master über den Untergang der Titanic im Roman berichten.