
„The Liner She`s a Lady“
Rudyard Kipling
Siri und der Master stehen nicht auf große Schiffe.
„Diese riesigen Ocean-Liner sind Ansammlungen von Läden, Shops und Fitnessgedöns, da kann ich doch gleich im Einkaufscenter Urlaub machen – und richtig schaukeln tut`s auch nicht bei all diesen Stabilisatoren. Amüsement für weicheiige Landratten ohne Fluchtmöglichkeiten ist das!“ ruft Siri empört, als der Master sie bittet, an einem Artikel zum hundertsten Jahrestag des Untergangs der Titanic mitzuarbeiten.
Selma ist anders. Sie kann sich fein herausgeputzt köstlich beim Captain`s Dinner amüsieren und weiß durchaus das angenehme Bordleben zu genießen. Den anderen beiden wirft sie, nur im Stillen freilich, vor, dass ihre Vorstellung von der Seefahrt beim Odysseus (deswegen heißt Masters Boot auch Circe!) und Sindbad, dem Seefahrer aus Tausendundeine Nacht, stehen geblieben ist. Sindbad und Odysseus erleiden zwar ständig Schiffbruch, allerdings einen romantische Schiffbruch mit Happy End – aber ist nicht diese Hollywood-Verfilmung des Untergangs der Titanic nicht auch schön schaurig romantisch? Es gibt so viele Schiffsbrüche der des Robinson z.B. und der von Erica Jongs Fanny, um die pikantere Art des Schiffbruchs zu erwähnen. Sein wir doch ehrlich, wir erleiden alle Schiffbruch (klagten schon die griechisch-römischen Klassiker) und sei`s mit einem Glas Champagner in der Hand, wie`s der Mythos von der untergehenden Titanic mit seiner Liebe zum fiktionalen Detail ausmalt.
Im großartigsten aller Schiffbrüche zu schwelgen, das ist reine Schadensfreude, da es glücklicherweise die anderen traf.
Nach diesen geheimen Gedanken schlägt Selma vor, im Nordregal der Bibliothek sich die bebilderte Ausgabe von Terry Colemans Buch „The Liners“ anzuschauen. Es ist die Erstausgabe von 1976, auf deren Schutzumschlag der Liner Normandie mit einer hochhausstrotzenden Großstadt verglichen wird. Und was zeigt die erste Abbildung dieser Geschichte der Atlantiküberquerungen? Shopping auf der Galerie der Aquitania – als Frontispiz, dieser Illustration vor der Titelseite, die in älteren Büchern das Motto des Buches angibt. Das dritte Kapitel „The Greatest of the Works of Man“ ist der Titanic gewidmet, die in einer April-Nacht bei spiegelglatter See sank. Aufschlussreich, was man von der Titanic abbildet: Es beginnt mit Schwimmbad und Tennisplatz, gleich gefolgt von einer Art Fitnessraum, in dem man auf Schaukelpferden wohl gekleidet ritt, und dann zeigt sich fürstliche Prachtentfaltung an den elektrischen Aufzügen. Danach kommt das erste Bild, das vermittelt, auf einem Schiff zu sein zu sein, nämlich das Foto vom 2. Klasse Promenadendeck, übrigens ist auch hier kein Stückchen Meer zu sehen. Es geht weiter mit schlossartigen Treppen, Pariser Cafés, erst danach folgen die üblichen Bilder vom Untergang der Titanic.
Auch in anderen Büchern fällt auf, dass es bei den Abbildungen von Linern um die Darstellung des faszinierenden Luxus geht (insbesondere bei der Titanic, die „Millionaire`s Special“ genannt wurde und auf der die damals vier reichsten Männer der Welt umkamen), bei dem die See verdrängt wird, sie erscheint nicht im Bild. „Das ist doch klar!“, meint Siri, „Es geht um Kultur, die sich als Siegerin über die Natur versteht. Das grausam hungrige Meer ist Natur an sich, eben gerade das, was man im Wahn der Gründerzeit als produktionsstörend zu eliminieren versuchte.“
Keine Angst, so hochtrabend pflegt Siri sonst nicht zu sprechen, aber vielleicht lag`s am Gin Tonic, dass der Master noch eins drauf setzt: „Die Titanic wäre doch der Lieblingspatient von Freud gewesen – wenn sie auf die Couch gepasst hätte. Das Verdrängte wird des Verdrängenden Untergang. Dass es mit der Titanic ein schlechtes Ende nehmen musste, wäre Freud völlig klar gewesen, da sie seit ihrem Embryostadium himmelhoch gelobt wurde. Ja, schon ihr Name drückt eine Inflation aus, sie wird gottgleich, womit sich bedrängende Erwartungen verbinden. Eine klassisch neurosebildende Kindheit wäre die Diagnose und was soll da anderes herauskommen, als diese protzende Titanic, das verzogene Luxusweib unter den Schiffen. Als sie dann in See sticht – Freud würde seine runde Brille putzend etwas vom Mechanismus der Umkehrung murmeln, mit dem dieser schamhafte Zensor der Psyche die plump sexuelle Anspielung macht, dass die See sie sticht. ‚Ein Entjungferungssymbol!‘ würde er freudig ausrufen und daran erinnern, dass die Titanic bei ihrer Entjungferung, die ja eine Jungfernreise darstellt, untergegangen ist.
Jung, der zusammen mit Freud auf dem Liner George Washington (der per Funk die Titanic vor dem Eisberg warnte) drei Jahre vor dem Untergang der Titanic auf ähnlicher Route den Atlantik überquerte, wäre jetzt richtig in Fahrt gekommen (er war ein aufbrausend leidenschaftlicher Charakter). Alter Tradition folgend, liebte er die verschlingende See als Metapher für das Unbewusste. Er hätte diesen Untergang der Patientin Titanic als ersten Schritt der Individuation gesehen, Befreiung aus der Einseitigkeit der von Ideen und Ansprüchen geprägten Kindheit. Weil diese Kindheit einseitig vom Geist geprägt war, schlägt an der Grenze zum Frausein das Pendel um, und die Titanic gibt sich grandios hin. Sie versinkt in den spiegelglatten Fluten des Unbewussten („stille Wasser gründen tief!“) – und ragt nicht am Ende das Heck der Titanic phallischtriumphierend wie der pater potestas aus dem Wasser?
Jung würde mit großer Geste und rotem Kopf fortfahren, dass dieser Untergang die Sehnsucht nach absoluter Hingabe ausdrücke, worauf Freud triumphierend ausriefe: ‚Ich sagte es doch schon immer, Eros und Thanatos gehören zusammen. Die Franzosen wissen das, sie nennen den Orgasmus den kleinen Tod. Und ein großer Orgasmus ist entsprechend dem großen Tod verbunden.‘
Natur siegt über Kultur, darin waren sich Freud und Jung einig. Archetypisches wirkt über seine verblüffende Einfachheit, führt der Master oberlehrerhaft aus und elaboriert erklärt er, dass deswegen der Mythos „Titanic-Untergang“ bis heute noch die Gemüter bewegt. Er lässt sich gar dazu hinreißen, sich der kühnen Ansicht von Alyssa Freitas und Lawrence Lufkin (Titanic and Nautical Resource Center) anzuschließen, dass nämlich der Untergang der Titanic für die USamerikanische Öffentlichkeit ähnlich wie die Zerstörung des World Trade Centers am 11. Spetember wirkte.
Selma erzählt zum Abschluss des Abends noch eine erstaunliche Geschichte, die von der Eisbrecherstation in St. Johns/Neufundland dokumentiert wurde: 1935 fuhr der Seemann William Reeves, der am Tag des Untergangs der Titanic geboren wurde, auf dem Frachtschiff Titanian über die Stelle des Titanic-Unglücks und dass auch noch im April, die See war wie damals spiegelglatt. Als Reeves, der in der Nacht im Ausguck Wache hielt, das alles bewusst wurde, schlug er aus einem Gefühl der Panik heraus Alarm. Gerade noch rechtzeitig konnte die Titanian vor einem riesigen Eisberg stoppen. Da der jedoch im Stadium des Zerfalls begriffen war, musste das Frachtschiff aus einem gefährlichen Eisfeld von Eisbrechern von St. Johns gerettet werden.
„Ist das irgendwie so wie beim Bermuda-Dreieck?“, fragt Selma am Schluss ganz flattrig, „Eine Stelle, an der das Meer nicht befahren werden möchte? Oder leben dort vielleicht die Nixen und Wassermänner, die sich so ihre Geliebten holen?“
Der Master hält all dieses für Seemannsgarn, für Tollheiten der Psyche.
„Auch `ne Verdrängung“, meint Siri trocken.
Herzliche Grüße aus sunny Norfolk und vielen Dank an Dina für die Bilder und Ideen
In einem der nächsten Blogbeiträge werden Siri oder der Master über den Untergang der Titanic im Roman berichten.