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Leseratte trifft Bücherwurm

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Leseratte trifft Bücherwurm

Seid ihr auch so völlig gesättigt an Filme und Berichte über Eismänner und die Arktis? So richtig satt? Also Tantchen kann das Wort Eis nicht mehr hören. Im allabendlichen Fernsehprogramm gab es wochenlang nichts als Pole und Gletscher, als gäbe es die Weißwüste bald nicht mehr. Aber ich kenne da jemanden, der richtig verbissen eishungrig ist. Ein wahrer Feinschmecker, wenn ihr mich fragt.
Du meine Güte, bei uns war was los, als Dina die vielzitierte, ehrenwerte Ausgabe von Nansens  „Farthest North“ – erste englische Auflage! – in die Hand nahm.

Glücklicherweise wurde der Nansen nicht angeknabbert, klar doch, der ist zu zäh!

Familie Buchwurm lebt in diesem Schatz wie im Schlaraffenland. An den ersten dreißig Seiten hatte sie sich schon dick und rund gefressen. „Für den  Buchwurm ein  Essen wie es im Buche steht“, kicherte ich, da musste selbst Dina schmunzeln.
„Darüber hat doch Masterchen in seinem Roman geschrieben!“, wirft Siri flattrig ein, „ich lese dir mal paar Abschnitte vor, an denen ich mitgearbeitet habe, darf ich?“

Er zog die beiden Bände von Nansens „Farthest North“ aus dem Regal, die englischen Erstausgabe von 1897. Der eine Band war nicht im besten Zustand, das einzige Buch in Viktorias Sammlung, in dem die Larven der Nagekäfer verheerende Schäden am Buchblock hervorgerufen hatten. Die Seiten waren unten an den Ecken rund gefressen und Wurmgänge zogen sich tief hinein. Ob der Bücherwurm noch aktiv ist? Er hatte einmal gelesen, Schwefelkohlenstoff helfe zuverlässig gegen die Buchwürmer, die eigentlich Käfer sind, ein Mittel, das fürchterlich stank. Da die Nachbarbücher nicht befallen waren, entschied sich Gerrit gegen den Einsatz von Chemie. Er wollte nicht, dass alle Bücher der Eisecke am Ende womöglich wie faule Eier riechen würden. Und wer weiß, ob das Gift nicht auch die Nerven der Menschen angreift? Er sagte sich, dass Wurmlöcher einem edlen alten Buch Würde verleihen. Sind die Gänge, die die Larven in die Bücher hineinfressen, nicht ein schönes Sinnbild für die Ideen, die sich in Büchern fortsetzen und sich durch sie hindurch ziehen? Hatte ihn nicht Martin als Bücherwurm bezeichnet? Nein, die Bücherwürmer bleiben, beschloss er, wir Bücherwürmer sollten zusammen halten.

Gerrit, der Bücherwurm. Freundlich klag das nicht gerade. Bücherwurm und Leseratte – warum werden Menschen, die viel lesen, mit solchen ekelhaften Tieren verglichen? Er hatte früher Tanja als Leseratte bezeichnet. Sie hatte heftig protestiert, sie wollte keine Ratte sein. Ratten, Würmer – will man damit die Intellektuellen pauschal als Abweichler abwerten oder trifft das nicht auch einen wahren Kern, leben die Intellektuellen nicht wie Ratten und Würmer im Dunkeln, zwischen ihren Büchern, wo sie das Leben verpassen? Dieser Nansen, dessen dickes Buch er nach wie vor in der Hand hielt, der hatte es richtig gemacht, der war nicht zwischen den Druckseiten stecken geblieben. Sportler, Politiker, Menschenrechtler, Forscher, Erfinder und Philosoph, eigentlich ein modernes Universalgenie, nein, der hatte seine Zeit wirklich nicht mit selbstverliebten intellektuellen Spielereien vertan.

Gerrit und Mary unterhielten sich über das Verlieren von Bücher und den Buchklau. Gerrit las ihr aus seinem Notizbuch einen Spruch vor: „Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Der Schlagfluss soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Buchwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Wurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren, auf immer.“
„Wer denkt sich denn so was aus?“, fragte Mary.
„Angeblich die Mönche des Klosters San Pedro in Barcelona. Aber da hat es nie ein Kloster gegeben. Das hat sich vor hundert Jahren ein Krimiautor ausgedacht, Pearson heißt der.“
„Erfunden, aber gut erfunden. Den Spruch stelle ich auf meinem kleinen Bücherregal auf“, begeisterte sich Mary. Sie fand die Vorstellung von Würmern, die in den Eingeweiden herumnagen, besonders ekelig und abschreckend.
„Das wird mit uns allen geschehen“, warf Gerrit lachend ein, „denn wer hat nicht ein Buch in seiner Bibliothek stehen, das geklaut oder ausgeliehen und nicht zurückgegeben worden ist? Buchliebhaber“, so folgerte er, „sind deswegen immer angenagt. Sie liegen im Sarg – durchlöchert von der nicht ruhenden Mühe der Buchwürmer, die wie die Raupe Nimmersatt die Haut in perforiertes Pergament verwandeln.“
Mary fasste zusammen: „Buchliebhaber sind also besonders offen.“
„Tote Buchliebhaber!“, berichtigte Gerrit.

Ob die Hitze des Feuers wohl Familie Buchwurm vertreibt?

„Aber ich weiß noch etwas, das unser Masterchen nicht geschrieben hat!“ rufe ich, die liebkluge Selma ganz angeregt durch Masters Texte. „Buchwürmer werden die Menschen wie Masterchen und Feen wie du, liebe Siri, genannt,  weil sie sich die Bücher oft so nah vors Gesicht halten, dass es aussieht, als ob sie diese aufessen würden. Außerdem ernähren sie sich von Büchern.“
„Aber ich weiß was, was du nicht weißt: Diese nicht gerade charmante Bezeichnung wurde erstmals 1747 von dem Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing in seinem Lustspiel „Der junge Gelehrte“ (3. Aufzug, 1. Auftritt) verwendet. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts war Buchwurm als Spottname für lesende Leute und Feen üblich. Überhaupt, finde ich es höchst frech, eigentlich unverschämt, dass es noch andere Bezeichnung aus dem Tierreich für uns gibt, nämlich Leseratte. Aber immerhin sind Ratten sehr klug, fast so klug wie ich, aber nur fast!“

Möge der Buchwurm Euch alle verschonen
wünscht Euch
die liebkluge Selma

Last not least:

Happy Birthday Umberto Eco zu deinem achtzigsten Geburtstag heute! Weißt du, Masterchen ist ein großer Fan von dir, ja fast bist du sein Vorbild. Schon vor „Der Namen der Rose“ studierte er „Einführung in die Semiotik“ und dann beschäftigte er sich mit deinen Schriften zur Intertextualität. Aber da man nicht nur Hochkluges lesen kann, wendete er sich deinen Romanen zu, die er mit roten Bäckchen und Glitzeraugen las. – Siri BuchFee und der Master freuen sich auf Neues von dir, obwohl wir zugeben müssen, dass wir „Der Friedhof in Prag“ noch nicht gelesen haben.