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Heroes

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Helden

Heutzutage ist es ein Handwerk, Forschungsreisender zu sein; ein Handwerk, das nicht, wie man meinen könnte, darin besteht, nach vielen Jahren intensiven Studiums bislang unbekannte Tatsachen zu entdecken, sondern eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und – möglichst farbige – Bilder oder Filme anzusammeln …

Today being an explorer is a craft, a craft that doesn`t search for the unknown after intensive studies for years but hurrying many miles to collect coloured pictures or films … 

Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen (A World on the Wane)

Hiermit schließen wir unsere Posts über den Norden ab. Seid ihr froh? Es hat Spaß gemacht, uns aus Masterchens Manuskripten zu bedienen. Da unser Beitrag über die Hölle ein derartiger Erfolg war, arbeiten wir beide emsig an einem über Teufelsvorstellungen. Lasst euch überraschen – und immerhin ist der Teufel doch auch ein Held 😉

This is our last post about the North. We really liked it to use our Master`s old manuscript. As our post about the hell was such a success we are now busy studying the image of the devil. Let yourself be surprised – anyhow the devil is a kind of hero too, isn`t he?

Nachdem der Norden als Eingang zur Hölle geträumt wurde, schlägt das Pendel um: Er wird zum diesseitigen Ort der Fülle. Das spirituelle Interesse paradiessuchender Mönche wandelt sich in ein kommerzielles. Zuerst die Wikinger, später die Walfänger suchten hier ihr Glück. Martin Frobisher hoffte vergeblich auf Gold, als er eine Schiffsladung von wertlos glitzerndem Kies nach England brachte, andere suchten den kürzesten Weg zu den Schätzen des Fernen Ostens.

The dream of the North as the entrance to hell was soon replaced, it became the secularistic place of abundance. The spiritual interest of the monks searching paradise changed to a commercial interest. First the Vikings then whalers tried to find their fortune here. Martin Frobisher hope for gold was all in vain when his gleaming gravel he brought to England turned out to be worthless. Others were looking for the shortest passage to the treasures of the East.

Old whale bone (N Greenland)

Old whale bone (N Greenland)

Diese Träume waren kompensatorisch, denn im mittleren Europa waren weite Bevölkerungsschichten verarmt. Die bewusst eingesetzte Vorstellung vom reichen Norden versprach ein Entkommen aus der Misere im eigenen Land. Solche Propaganda, die seit Erik dem Roten verbreitet wurde und zur Bezeichnung Grönland (grünes Land) führte, zog Kühne gen Norden, ein Abenteuer, das allerdings nach dem Ende der mittelalterlichen Warmzeit um 1300 ein abruptes Ende fand. Als alle Wikingersiedlungen auf Grönland um 1350 aufgegeben waren und Grönland aus dem Bewusstsein der südlicheren Völker verschwand, wurde der Traum vom Norden ambivalent. Nach wie vor blieb der Norden zwar das Land der Fülle, aber zugleich wurde Ultima Thule zum gefährlichen Ort. Besonders gegen Ende der Siedlungsepoche erschienen den Nordmännern die Inuit als Inkarnation des Bösen, wenn sie auch mit Neid erkannten, dass deren Jägerkultur in der kälter werdenden Arktis im Gegensatz zu ihrer Ackerbaukultur überlebte.
Als zur Zeit der Reformationskriege Mitteleuropa eine große Armut erlebte, wurde der Schatten der Arktis verdrängt. Der Traum von der Fülle nahm wieder überhand und ließ den Wal- und Walrossfang hauptsächlich der Holländer und Engländer entstehen. Gleichzeitig träumte man vom kurzen Weg zu den Schätzen des Ostens. So begann die Suche nach der Nordost- und Nordwestpassage, die bis ins späte 19. Jahrhundert anhielt.

All these drams were compensatory as in Europe most of the people were very poor. The idea of the treasures of North produced a hope for escaping a miserable life. Such propaganda was spread since Eric the Viking and gave Greenland its name. The brave sailed up North, an adventure that came to sudden end with the end of the medieval warm interval around 1300. When all the Viking settlements were given up at 1350 Greenland and the high North vanished from the mind of the people in the South. The dream of the North became ambiguous. The North was on one hand still a land of wealth but on the other hand it turned into a dangerous place. At the end of the settlements up North the Inuit became incarnations of the evil when the settlers had to acknowledge with envy that the culture of hunters would survive in the North getting colder whereas the farming culture would vanish.

Walrusses had been brutally killed for their ivory by the hundreds mainly in the 17th and 18th c. (Svalbard)

Walruses had been brutally killed for their ivory by the hundreds mainly in the 17th and 18th c.
(Svalbard)

Das Bild vom Norden hatte sich seit dem späten 15. Jahrhundert vollständig kommerzialisiert. Es ließ John Cabot im Mai 1497 von Bristol über den Pol nach China aufbrechen – eine Unternehmung, auf der einiges außer der Seeweg nach China entdeckt wurde. Der gebildete englische Walfänger William Scoresby war einer der wenigen, der erst im 19. Jh. an der Realisierung dieses eitlen Traums zweifelte. Für uns Buchfeen ist Scoresby einer der scharfsinnigsten Beobachter des Eises, den übrigens Melville in „Moby Dick“ zitiert. Sein Buch „Das Eis der Arktis“ von 1815 kann man noch heute mit Genuss lesen.

The image of the North was fully commercialized since the late 15th c. It made John Cabot sail across the North Pole to China in May 1497, as he planned it, and he discovered quite a lot except the passage to China. The highly educated English whaler William Scoresby was among the very few who doubted that there was ice free way to the East across the North Pole – but that was not before the 19th c. We Bookfayries honour Scoresby as one of most perceptive observer of the ice. He is quoted in Melville`s „Moby Dick“ and his book „The Ice of the Arctic“ from 1815 is still worthwhile reading.

Moby Dick - illustration of an early edition (not R.Kent, but impressive)

Moby Dick – illustration of an early edition (not R.Kent, but impressive)

Herman Melville: Moby Dick (ungekürzter Text in Neuübersetzung von F. Rathjen mit den 269 Illustrationen von Rockwell Kent, Frankfurt/M. 2004)
Unser Bild des Walfangs prägte dieser abschweifige, aber doch genial und spannend geschriebene Roman. Diesen Klassiker finden wir unerreicht, was seinen Stil und die beschworene Stimmung der Tragödie betrifft. „Moby Dick“ muss man in der ungekürzten Ausgabe lesen. Es gibt eine Fülle gekürzter und geglätteter Ausgaben im Handel, denen jedoch der Charme des vollständigen Originals fehlt. Jeder Kunstliebhaber wird sich an den ausdrucksstarken Federzeichnungen erfreuen, mit denen R. Kent diesen Klassiker illustrierte. Dort wird der Wal zum Leviathan. Durch starken Strich und mit viel Schwarz kommt er gefährlich lebendig herüber. In diesem Buch haben wir gleich zwei Helden, Kapitän Ahab und sein Gegenspieler Starbucks.
Our view of whaling is shaped by this digressive but brilliant and exciting novel. It`s a classic of world literature full of tension. Melville produces a dark mood that is hardly reached in other novels of his time. Every lover of the arts will like the expressive pen drawings by Rockwell Kent illustrating this classic. There the whale turns into the Leviathan. With a strong line and a lot of black the whale comes over very lively. This is a novel of two heroes at least, Captain Ahab and his antagonist Starbucks.

Jack London: White Fang (London 1905) – „Wolfsblut“
Dieses „Hundebuch“ ist ein Klassiker der Trappergeschichten, der oft kopiert wurde. Er spielt in der kanadischen Arktis, wo der Kampf ums Überleben bei Mensch und Tier im Vordergrund steht. Die Menschenfeindlichkeit der Arktis wird hier wie in so vielen Büchern dieser Zeit besonders hervorgehoben. Nachdem die einen, die auf Öl aus waren, verschwanden, folgten diejenigen, denen es um Pelze ging, die im südlicheren Europa und Russland hoch gehandelt wurden. In diesem Milieu spielt „Wolfsblut“, ein Roman, in dem ein Hund der Held ist. Jack London wurde berühmt für seine Klondike-Romane, die zur Zeit des Goldrausches im Yukon-Gebiet spielen.
This is the classic of trapper literature which has been copied quite often. The story takes place in the Canadian Arctic where the survival of men and animals is the main theme. The deadly environment of the high Arctic is stressed here like many books about the North at this time. After the first people coming to the North for oil the next ones came for fur which brought high prices in Europe and Russia. Among these people „White Fang“ is set, a novel in which a dog is the hero. – Jack London became well known for his Klondike-novels, set at the time and place of the Yukon goldrush.

Jack London "White Fang" - cover of the first edition

Jack London „White Fang“ – cover of the first edition (a cover we really like)

Mosebach, Martin: Der Nebelfürst (München 2008)
Dieser Roman geht schlampig mit den Fakten um. Die Bäreninsel, um die es geht, wird nördlich von Spitzbergen angesiedelt, wobei ein Blick auf die Karte der Arktis genügt hätte, sie südlich von Spitzbergen zu finden. Uns gefällt jedoch die Ironisierung der Kolonialpolitik zum Ende des 19. Jahrhunderts und der Sprachwitz. Dass der deutsche Theodor Lerner, der Held, die bis dahin herrenlose arktische Bäreninsel 1898 in seinen Besitz nahm, ist ein erstaunliches, aber gesichertes Faktum. Bei diesem langatmigen Roman geht es um die geplante Ausbeutung der Kohle auf dieser kleinen Insel in der Barentssee, die heute ein unbewohntes Naturschutzgebiet ist, das extrem selten besucht wird.
This novel about Bear Island is available in German only, but that doesn`t matter so much because we Bookfayries thought it to be quite boring. Here the Hero is a historical figure, the German citicen Theodor Lerner who bought this island in 1898. But today it belongs to Norway and is a very rarely visited nature reserve.

Baereninsel

Map of the Baer Island drawn and commented by Theodor Lerner

Show me a hero and I`ll write you a tragedy
W. Scott Fitzgerald

Träume sind vom Zeitgeist abhängig. Mit der Entdeckung der individuellen Seele in der Romantik kommt das Interesse am Schatten auf. Das Verdrängte wird nicht nur im Schauerroman wahrgenommen, sondern auch in der Realität. Der Norden wird zum feindlichen, asketischen Ort, an dem der Held sich durch Leiden bewährt und entwickelt. Gerade Roald Amundsen pflegte diesen Traum vom einsamen Helden, der sich wie Kapitän Ahab gegen die feindliche Natur zu bewähren hat. Amundsen entspricht damit dem Bild des Helden in den Mythen der Völker, für das nach dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell „die freiwillige Introversion“ gehört. Damit wird der Norden wieder der mystifizierte und erhabene Ort, der Helden hervorbringt – eine Idee, die gefährlich nahe an faschistischen Träumen angesiedelt ist. Wirklich heldenhaft ist ja, dass Amundsen beim Versuch der Rettung seines Feindes umgekommen ist.

Dreams depend on the zeitgeist. An interest in the shadow side rises with the discovery of the individual soul during the age of Romantic. The repressed is not only seen in gothic novels but in reality too. The North turns into the hostile area in which the hero proves himself and develops. Especially Roald Amundsen fostered the dream of the lonely hero who, like Cptn. Ahab, has to prove himself against a hostile nature. So Amundsen is in accordance with the archetypal hero. He shows that „voluntary Introversion“ that Joseph Campbell, as the specialist for mythology, sees as typical for the classic hero. The North turns into mystified and elevated area again, into a place producing heroes – an idea that is dangerously near to the fascist dreams. What makes Amundsen to a hero for us is that he died trying to rescue his enemy.

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts und der Gründung der britischen Royal Geographic Society werden zunehmend Forschungsreisende wie John Franklin, John Ross und William Edward Parry nicht nur zu Helden stilisiert, sondern auch zu Vorbildern des Volkes in der Literatur aufgebaut. Franklin war so beliebt, dass von seinem Portrait billige Stiche in den Straßen Londons verkauft wurden. Um ihn rankten sich die meisten Geschichten. Aber schon viel früher, um1798 schrieb Friedrich Schiller an Goethe, dass Weltentdecker oder deren Schiffe „einen schönen Stoff zu einem epischen Gedichte“ bieten würden.

Since the beginning of the 19th c. and the founding of the Royal Geographic Society more and more explorers like John Franklin, John Ross and William Edward Parry are not only made to heroes but to role models for the people. Franklin was that popular that his portrait was sold cheaply in the streets of London and a lot of stories were told about him. But even quite some time earlier, in 1798, the German poet Friedrich Schiller wrote to Goethe that explorers and their ships would make a great poem.

Arctic desert where the ice has withdrawn

Arctic desert where the ice has withdrawn

A traveler has a right to relate and embellish his adventures as he pleases, and it is very impolite to refuse that deference and applause they deserve.
Rudolph Erich Raspe, Travels of Baron Munchausen

Uns Buchfeen hat verblüfft, dass die Suche nach der Nordwest- und Nordostpassage zwei große Helden hervorbrachte, die Versager waren. Es sind John Franklin und Elisha Kent Kane, die mit rührender wie tragischer Naivität begeistert in den Norden zogen und durch ihre mangelnde Führungsqualitäten das Desaster anzogen. Kane, einer der ersten großen Medienstars der USA, war der letzte Eismeerfahrer, der behauptete, das sagenhafte offene Polarmeer gesehen zu haben. Obwohl er an den falschen Stellen nach Franklin suchte, wurde er als Held gefeiert.

We Bookfayries are astonished that the search for the NW and the NE Passage produced two extraordinary heroes who both have been a failure. John Franklin and Elisha Kent Kane, who in pathetic and tragic naivety sailed North and attracted disaster because of their lack of leadership. Kane, the first mediastar of the US, has been the last explorer claiming to have seen the legendary open Polar Sea. Although he searched in the wrong places for Franklin he became a celebrated hero. 

Franklins Expedition und die nachfolgende Suche nach ihm brachte die meisten schauerlichen Arktisgeschichten in den Umlauf. Diese Suche war das literarisch produktivste Ereignis der gesamten Arktisforschung bis heute.
Zum Bestseller wurde Nadolnys Franklin-Roman. Der Roman ist nicht authentisch, sondern nur vage an dem historischen Franklin angelehnt. Das Thema ist u.a. John Franklins Versuch, die NW-Passage zu bezwingen. Franklin war übrigens nicht besonders langsam.
Stan Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit (München 1987)
Was zwar den Schauer des Lesers erhöhte, jedoch nicht in das Bild des edlen Helden passte, waren Geschichten über Kannibalismus, die bei der gescheiterten Franklin-Expedition um so schockierender wirkten, da er von englischen Offizieren verübt worden war. Charles Dickens weigerte sich zu glauben, dass zivilisierte Engländer aus Franklins Crew zu so etwas fähig waren.

Franklin`s expedition and the following search expeditions produced most of the nightmarish tales about the Arctic. The search for Franklin was the literary most productive event in Artic research up to now. Bestselling became Stan Nadolny`s Franklin-novel  „The Discovery of Slowness“. This novel is not at all authentical, it only vaguely follows Franklin`s life and his attempt to sail the NW passage. Franklin wasn`t a peculiar slow person. – What didn`t fit into the image of a hero were the stories about cannibalism which were especially shocking as it was done by English officers of the failed Franklin expedition. Charles Dickens refused to believe that civilized Englishmen of the Franklin crew could have eaten their colleagues.

A typical passage in the Artic (Svalbard)

A typical passage in the Artic (Svalbard)

Mit dem Kannibalismus, den es bei mehreren Expeditionen gab, beenden wir also unsere Betrachtung des Nordens, obwohl Masterchen noch einen bitterbös (selbst)ironischen Abgesang über den modernen Tourismus im hohen Norden geschrieben hat. Den zu veröffentlichen, ist uns unter Androhung von Taschengeldkürzung untersagt worden.

Let us end our posts about the Arctic with cannibalism which took place on many those failed expeditions. Masterchen did write a vicious ironical ending about modern tourism in the Arctic. We don`t dare to publish it. The punishment for posting it would be a big cut of our pocket money.

Zum Schluss noch eine Collage von Dina und mir, Selma Buchfee, die unsere Helden zeigt. Sie wurde aufgenommen als wir mit Masterchen in Whitby, dem Geburtsort von William Scoresby jr. und sr., waren, einem alten Walfängerort, der durch Bram Stokers „Dracula“ weltberühmt wurde – am zweiten Bild unten links spielt eine der letzten Szenen von „Dracula“.

Last not least a collage made by our beloved Dina and me, Selma Bookfayrie, which shows our heroes. The pictures were taken by Dina when we visited with our Mater Whitby, where William Scoresby sr. and jr. were born and lived. This old whaling town became famous worldwide by Bram Stoker`s „Dracula“ – look at the second picture from the left in second row, this plays an important role in one of the end scenes of „Dracula“

Whitbycollage

Masterchen schrieb übrigens in sein Tagebuch – ja, wir haben geguckt, nicht weitersagen, BITTE! – den paraphrasierten Brecht-Spruch, „wohl dem, der in einem Land wohnt, das keine Helden braucht“. Da kichern wir, dass unsere Flügelchen zittern „und nun lebt er in England“.
Our Master wrote in his diary – well, we just had a look, PLEASE, don`t tell! – the Brecht quote „blissed are those who live in a country that doesn`t need heroes“. We couldn`t stop laughing as he now lives in England 😉

Ganz liebe Grüße an euch alle
With love to all of you
Siri und Selma, the happy Bookfayries

The North in Literature

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Der Norden in der Literatur

Es sind schon Männer berühmt geworden, weil sie ein Fachgebiet gemeistert haben, dessen Bedeutung von ihren Zeitgenossen noch nicht erkannt worden war. Und ich habe die Literatur über die Arktis gemeistert.

Men became famous because they mastered a field which importance had not been acknowledge by their contemporaries. And I have mastered all literature about the Arctic.

Andrea Barrett, Jenseits des Nordmeers

Der Norden gleicht einer gestaltwandlerischen Frau, die den männlichen Geist mit ihren vielen Gesichtern verführt.
Lese ich über den Norden, verblüfft mich, wie unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten der Norden gesehen wurde. Für die alten Griechen war er der unbesuchte Ort, der Paradiesvorstellungen anzog. Als kühne Seefahrer den Rand des Nordens berührten, schlug diese Sicht ins Gegenteil um. Der Norden wurde zur Hölle, zum gefährlichen Ort, der Menschen verschlingt. Der französische Seefahrer Jacques Cartier bezeichnete noch 1534 die arktischen Gefilde als das Land, das Gott Kain zugedacht hat. Als Ort der Extreme provoziert der Norden extreme Sichtweisen: entweder wird er zum gelobten Paradies oder zur menschenfeindliche Hölle.

The North is like an ever changing woman who seduces the male mind with many faces.
I am astonished reading about the North how different different times saw it. For the old Greec it was an unvisited place which attracted paradise-like projections. When brave sailors visited the edge of the North they saw the opposite: The North became hell, the dangerous place devouring people. The French sailor Jacques Cartier called the North „the Land God allotted to Kain“ in 1534. As a place of extremes the North provokes extreme views, either it is see as the promised paradise or as the hostile hell.

skull of a polar bear

The skull of a polar bear

 

Als die ersten Schiffe in den hohen Norden vorstießen, war es die Ausbeutung dieser jungfräulichen Gegend, die raue Burschen aus südlicheren Gefilden anzog. Ihr Blick war von ökonomischer Gier geprägt. Die Menschheit erlebte ihren ersten Ölboom, der mit gnadenlosem Abschlachten der Wale und stinkenden Tranküchen die weltferne Arktis vergewaltigte. Als die Säuger des Meeres abgeschlachtet waren, folgte mit den Trappern die systematische Dezimierung der Säuger des Landes.
Im 19. Jahrhundert und noch bis nach der Eroberung der Pole, war die Arktis das Land, in dem sich echte Kerle bewährten. Sie wurden als die ersten beschrieben, welche die Eiswüsten bezwangen und froh waren, nach ihren Eroberungen schnell wieder nach Hause zu kommen. Zugleich begann man zaghaft gegen Mitte des 19. Jahrhunderts sich für die Bewohner der Arktis zu interessieren und aus wissenschaftlichem Interesse den Norden zu bereisen.

When the first ships reached the far north it was the exploitations of these virgin lands which drew rough guys. Their view was dominated by avarice. The humankind experienced its first oil boom which raped the far away Artic with a merciless killing of whales and smelly cooking of blubber. The trappers arrived when nearly all the mamals of the sea were butchered to kill the mamals of the land.
In the 19th c. and even after the conquest of the poles the Artic was a place where real guys were proving themselves. They were described as the first ones who conquered the ice deserts and being happy to return home swiftly after their adventures. At the the same time the first scientist began tentavely to became interested in the inhabitants of the North (at the middle of the 19th c.) and started to sail North driven by scientific interest. 

An old trap for polar foxes. The bait was placed under those heavy stones which slaied the fox dead.

An old trap for polar foxes. The bait was placed under those heavy stones on the wooden frame which slayed the fox dead.

 

All diese Betrachtungsweisen leben in unserem heutigen Bild des Nordens fort. Sie finden ihren Niederschlag im Literarischen und den Sachbüchern über die Arktis, die seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als idealisierter Ort der letzten Wildnis „in“ ist. Selbst die moderne Werbung nutzt die Faszination der Polargebiete, wenn sie textet: „Peary entdeckte den Nordpol, Amundsen den Südpol. Und ich bin die offizielle Entdeckerin des Ruhepols“ (Werbung für die Zeitschrift „mein schöner Garten“, Juni 2008).
In der Wahrnehmung der Inuit bezieht sich jede Landschaftsformation auf eine mythologische Geschichte. Landschaft und Mythos sind untrennbar mit einander verbunden. Die Landschaft bietet ein kollektives Gedächtnis und ist so nicht nur eine geografische, sondern auch eine psychologische Orientierungshilfe.

Als these approaches survived in our contemporary view of the North. You find them in fictional and non-fictional books about the Arctic which is in as the idealised place of the last wilderness since the the end of the 20th c. Even modern advertisment uses the fascination of the North by texting „Peary discovered the North Pole, Amundsen discovered the South Pole, and we discovered the Resting Pole“ (A German advertisment for a garden Magazine, June 2008).
In the perception of the Inuit every feature of their landscape is related to a mythological tale. Landscape and myth are inextricably connected. The landscape provides a collective memory and is not only a geographical but also a psychological guidance.

Johansen and Nansen leaving to the "Farthest North".

Johansen and Nansen leaving to the „Farthest North“.

 

Die kanadische Forscherin Sherrill Grace ist dem Konzept des Nordens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung nachgegangen. Sie beschränkte sich zwar auf das arktische Kanada, aber was sie über den Wandel dieses Nordbildes aussagt, gilt weitgehend für die gesamte Arktis (Sherrill Grace: Canada and the Idea of the North, McGill University Press, Montreal 2001). Auch der britische Archäologe Robert McGhee stellt scharfsinnig dar, was unterschiedliche Zeiten auf „Ultima Thule“ projizierten und wie Landschaft und Wahrnehmung zusammenhängen (Robert McGhee: Human History of the Arctic World, Oxford University Press, Oxford 2005).
Grace ist weitaus spezifischer als McGhee, dessen Beobachtungen oft im Abstrakten bleiben. Er wollte eine Besiedlungsgeschichte der Arktis vorlegen, was ihm bis ins Detail gelungen ist.

The Canadian scientist Sherill Grace researched about the concept of the North in art, literature and history. All she is writing about the changes of our concepts of the North applies to the whole Arctic although she constricts her research to Arctic Canada (Sherrill Grace: Canada and the Idea of the North, McGill University Press, Montreal 2001). The British archeologist Robert McGhee also describes sharp-sighted what different times used toproject on „Ultima Thule“ and how landscape and perception are connected (Robert McGhee: Human History of the Arctic World, Oxford University Press, Oxford 2005).
Grace is more specific than Ghee whose reflection are often quite abstract. Ghee`s aim was to document the history of colonisation of the the Arctic and he succeeded even in minute details. 

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Walruses (Svalbard) – they were hunted for ivory

 

Warum interessiert sich ein „Südländer“ für das Bild des Nordens?
Beweisen nicht die Urlauberströme, dass der Süden der Ort des Glücks ist? Der Mitteleuropäer strebt zur Sonne und Wärme, als folge er dem kommunistischen Lied „Brüder zur Sonne, zur Freiheit …“. Dennoch gibt es eine wachsende Zahl von Nordland-Enthusiasten, die jenseits der Massen, elitär im Eis ihr Paradies suchen. Das erinnert an die Nordmänner bei ihrer Besiedlung Grönlands. Damals wie heute suchte man dicht besiedelten Gegenden zu entkommen und sich in menschenleerer Weite zu bewähren. Wie die Nordmänner ihr Paradies erlebten und wie es endete, wird anschaulich in Jane Smileys umfangreichen Grönland-Roman beschrieben, der das Leben dreier Generationen von etwa 1345-1415 beschreibt (Jane Smiley: Die Grönland Saga, Frankfurt/M. 1992).

Why is someone from the South interested in the North?
Do not prove the streams of tourists that the South is the happy place? People from central Europe are striving for the sun and warmth as they would follow the communist anthem „Brothers, to the sun, to the freedom, brothers get up to the light …“ Although there are a rising number of North-enthusiasts who far away from the masses look in a elitist way for their paradise.  They equal the Norsemen in their colonising Greenland. Back then as today one tried to escape densely populated areas and to prove onself in the unpopulated wilderness. How the Norsemen experienced their paradise and how it ended you can read in Jane Smiley`s colorful Greenland-novel which pictures the life of three generations between 1345 – 1415 (Jane Smiley: The Greenlanders, New York 1988).

Ittoqqortoormiit (NE Greenland) - an isolated "village" of hunters. Dog sledges in the foreground.

Ittoqqortoormiit (NE Greenland) – an isolated „village“ of hunters. Dog sledges in the foreground.

 

Die Arktis lässt uns Eiszeit assoziieren. Sie erzeugt Bilder vom „einfachen“ Menschen, die in einer hochkomplexen Gesellschaft idealisiert werden. Darauf beruht die Ethno-Mode, die den Iunuit als „letzten Wilden“ entdeckte. Wie sich die Vorstellung der Eiszeit gegen enorme Widerstände im 19. Jahrhundert verbreitete, stellt Edmund Blair Bolles unterhaltsam und faktenreich dar (Edmund Blair Bolles: Eiszeit, Frankfurt/M. 2003). Er beschreibt unter anderem, wie Louis Agassiz die Idee der Eiszeit verbreitete. Als diese Vorstellung akzeptiert war, wurde sie von der Volksmeinung mit unseren Ururahnen a la Familie Feuerstein bevölkert, mit primitiven Jägern einer Kulturstufe, der sich der viktorianische Mensch überlegen fühlte und von der er zugleich angezogen war. Eine Gesellschaft, die triebhafte Instinkte verdrängte, brachte Freuds Psychoanalyse wie die Faszination am Wilden hervor, die stets auch sexuelle Untertöne besaß. Wer hat nicht vom Frauentausch der Inuit gehört, der ähnlich erregte, wie die Schilderungen von Cooks Seeleuten über die willigen Südsee-Insulanerinnen?
Dass viele Forschungsreisenden in der Arktis Kinder zurückließen, wird in wenigen Werken erwähnt. Der Amerikaner Peary lieh sich z.B. über lange Zeit die schöne Eskimofrau Aleqasina aus, mit der er nicht nur zwei Kinder zeugte, sondern auch Nacktfotos im Pin-up Stil aufnahm (Vgl. dazu die Biografie von Otto Emersleben: Robert Edwin Peary, Berlin 1991). Selbst der rassistische Eskimologe Vilhjalmur Stefansson hinterließ seinen Sohn Alex in der Arktis, den er mit der Inuk-Näherin Pannigabluk gezeugt hatte und um den er sich nie kümmerte.
Neben dem Zauber der enthemmten Inuitfrauen faszinierte andere Reisende die Freuden einer reinen Männergesellschaft, obwohl über homoerotische Freundschaften nie bei den Forschungsreisenden zu lesen ist, obwohl man sich freudig in einem Schlafsack aneinander wärmte.
Ein arktisches Buch zu lesen, verspricht also nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern auch Aufregung und eine latente Erotik.

The Artic provokes the assoziation ice age. It produces pictures of  simple men who are idealized in a highly complex society. This is the basis of ethno-fashion which discovered the Inuit as the last savage. How the concept of an ice age became accepted after fierce oppositions during the 19th c. is brillantly and entertainingly documented by by Edmund Blair Bolles (The Ice Finders: How a Poet, a Professor, and a Politician Discovered the Ice Age, 2000). He describes the problemLouis Agazzis had to get his idea of an ice age accepted. When it was done it was peopled with a kind of family flint-stone characters by the common readers, with primtive hunters on a level the Victorians felt far above but at the same time felt drawn to. A sexual repressive society produced Freud`s psychoanalysis as well as the fascination of the „savages“ which always had sexual undertones. Who hasn`t heard of the Inuit exchanging women? This was equally exciting as the desciption of horney women of the South Sea by Cooks sailors.
That  quite some Arctic explorers left children behind is hardly ever mentioned in the literature. The American Peary borrowed the beautiful Inuit woman Aleqasina for quite some time. He did not only produced two children with her but also used her as a model for pin-up-style pictures. Even the racist anthropologist Vilhjalmur Stefansson left Alex behind, a sun he had with the Inuit women Pannigabluk. Needless to say, he never cared for Alex.
Besides the uninhibited Inuit women other explorers were fascinated by the joys of a group of men only. But one doesn`t read a word about homoerotic friendship although one liked to warm each other in one sleeping bag.
Reading a book about the Arctic does not only provides one with tales of adventure and tension but with exitement of latent erotic as well.       

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Publikationen von arktischen Reisen dienten zunächst durch die Verbreitung von Information der Erforschung dieser Gegenden, von denen man sich wirtschaftlichen Erfolg versprach. Ende des 18. Jahrhunderts kommt mit Samuael Hearnes Buch about Nordkanada (1795) und Mungo Parks Bericht von seiner Afrika-Reise (1799) die unterhaltsame Literatur über die Erforschung unbekannter Länder auf, in deren Tradition noch Nansens Bestseller „In Nacht und Eis“ steht. Dieses Buch kann man gemütlich im Bett seinem Partner vorlesen. Es ist ein Buch der Hingabe an die Naturkräfte, eines sich Auslieferns, wie Nansen es ausdrückte, ein Buch, das S. Freud seiner Kindern als Nachtgeschichte vorlas.
Im 19. Jahrhundert diente die Literatur über die Arktis zunehmend nationalem Interesse. Es ging darum, welche Nation wie weit in den Norden vordrang – eine Potenzprotzerei des „je tiefer, je besser“. Heute beherrscht die berechtigte Sorge um den Klimawandel das Interesse von Wissenschaftlern und Laien an den Polargebieten.

Publications of journeys to the Arctic served first of all the distrubution of information of an area which promised an economical success. Samuel Hearne`s explorations of N Canada (1795) and the records of Mungo Park (1799) about his African adventures started an entertaining literature about unknown areas. Still in this tradition F. Nansen wrote his bestseller „Farthest North„, a book about surrender to the powers of nature which S. Freud read to his children as bed time strories.
During the 19th c. the literature about the North served more and more national interest. It was important which nation reached how far North – one see this as a potency complex following the idea „the deeper the better“. The interest in the polar regions is nowdays dominated by the legitimate worry about global warming.

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Our Master far North

Man glaubt es kaum, endlich haben die Esoteriker den Norden und somit den grönländischen Schamanismus für sich entdeckt. Freilich beschäftigten sich bereits führende Esoteriker des deutschen Faschismus mit dem Norden (Thule Gesellschaft und ihre Hohlerd-Theorie), ohne jedoch den dort praktizierten Schamanismus zu beachten. Besonders erfolgreich vermarktet sich der grönländische Schamane Angaangaq, der gefühlskalten Europäern die Herzen mit „icewisdom“ erwärmt (Angaangaq: Schmelzt das Eis in euren Herzen! München 2010).
Wesentlich anmutiger und mit französischem Charme widmet sich der Erfolgsautor und Psychiater Francois Lelord dem Thema Inuit zugleich mit zwei Büchern (Hector und die Entdeckung der Zeit, München 2006 und Das Durcheinander der Liebe, München 2008). Spannend fand ich in „Hector und die Entdeckung der Zeit“ die unterschiedliche Zeitauffassung der Inuit, die schon den ersten Forschern auffiel. Amüsant sind die Erlebnisse des Inuit Ulik, der von einer Ölgesellschaft zu Werbezwecken nach Paris eingeladen und dort mit der europäischen Auffassung der Liebe konfrontiert wird. Einige seiner Erfahrungen im Norden hat übrigens auch unser Master in seinem Roman „Tantes Tod“ verarbeitet, in dem es in einigen Kapiteln um die Pläne der Ölmaffia in Grönland geht. Neugierig geworden? Die ersten 30 Seiten könnt ihr hier lesen. Viel Spaß!

At last the mytics discovered the North and the shamanism of Greenland. That`s not entirely new because leading mystics of the German fascists were already highly interested in the North, especialy the Thule-Society. But they followed the ideas of the hollow-earth-thery and weren`t interested in shamanism. It is Angaangaq, a shaman from Greenland, who successfully put on the esoteric market his „icewisdom“, which melts the hearts of cool Europeans.
The French bestseller author and psychiatrist Francois Lelord writes much more nifty and funny in two of his novels (Hector and the Discovery of Time and The Chaos of Love) about the Inuit way of life. In his novel about the time he points out how the concept of time in the Inuit society differs from our idea of time. Funny are the adventures of the Inuk Ulik in his second novel who was sent by an oil drilling company to Paris for advertisment reasons. There he is confronted with the European concepts of love and sex.
Our Master did write the novel „Tantes Tod“ (Death of an Aunt – unfortunately in German only) in which some of the action takes place in Svalbard and Greenland. If you read German just have a look into the beginning (the first 30 pages) here.   

Mit eiskalten Grüßen 😉
Greetings from
Siri und Selma, die munteren Buchfeen

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and on Dina`s blog „The World According To Dina“:

All pictures by Klausbernd Vollmar except the Johansen-Nansen-photograph (Google archives) and that of our Master is taken by Monika Obser.

Where Time Becomes Space

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Siri + Selma

Siri + Selma

If time and space are curved where do all the straight people come from?
Writing on the wall, London

Die Infanteriekaserne in Gamlebyen, Fredrikstad, erbaut 1773-1777 von Hans Christopher Gedde.
Barracks of the infantry at Gamlebyen, Fredrikstad, built from 1773 to 1777 by Hans Christopher Gedde.

Sie ist auf den ersten Blick ein gewöhnliches Gebäude, das sein Geheimnis erst auf den zweiten Blick enthüllt. Die Kaserne ist ein gebautes Symbol für die Zeit. Wie so häufig bei Symbolen nehmen wir sie erst wahr, wenn wir verweilen. Masterchen meint, wir hätten den Blick für die Symbolik unserer Umwelt verloren, wodurch sie zu einem beliebigen Ding geworden wäre, das eindimensional unter Aspekt des Nutzens wahrgenommen wird. Kurzum, ohne ein Bewusstsein für die uns umgebende Umwelt entgeistigen wir sie.

At the first glance it`s quite an ordinary building which reveals its secret not before the second glance. These barracks symbolizing  time. As often we perceice symbols not before we pause for a longer look. Our master explains: „We lost our ability to see symbols. Therefore our surroundings became arbitrary and we behold it onedimensional under the aspect of its profit – in short, without a conciousness for its symbolic value we de-spiritualize our surroundings.“ 

Alle folgenden Fotos stammen von dieser Kaserne in der Altstadt von Fredrikstad. In dieser Stadt Südnorwegens steht nicht nur diese ungewöhnliche Kaserne, hier wurden Dina, Edvard Munchs Mutter und Roald Amundsen geboren, Leonard Cohen und Marianne sind dort gewesen wie ebenfalls Axel Jensen.

The following pictures are taken of these barracks in the old town of Fredrikstad. In this town in southern Norway you will find not only this extraordinary barracks, Dina is born here as well as Roald Amundsen and the mother of the painter Edvard Munch, Leonard Cohen and Marianne have been to Fredrikstad and Axel Jensen too.

DSC_0120 Kalenderkaserne, Gamlebyen, Fredrikstad Foto: Hanne  Siebers

Die Kaserne ist wie ein Kalender aufgebaut: Sie zeigt 4 Tore und Flügel für die Jahreszeiten, 12 Schornsteine für die Monate, 52 Zimmer für die Wochen, 365 Fenster für die Tage, 24 Scheiben in jedem Fenster für die Stunden und 60 Türen für die Minuten. Wir Buchfeen haben  jedoch genau hingeguckt und müssen euch sagen, dass man bei den Fenstern gemogelt hat. Es war wohl aus statischen Gründen unmöglich, so viele echte Fenster unterzubringen und so hat kurzerhand einige Fenster auf die Fassade gemalt, so dass die Zahl 365 erreicht wurde.
Hier wurde die unfassbare Zeit zu fassbaren Raum. Ein wenig erinnert sie uns an einen Adventskalender, doch die sind ja viel schöner und einfacher, wenn sie in ihrer viktorianischen Form Gebäude mit 24 Fenster und Türen für die Tage bis zum Hl. Abend abbilden.

These barracks are built like a calendar. There are 4 gates and wings for the seasons, 12 chimneys for the months, 52 rooms for the weeks, 365 Windows for the days, 24 panes in each window for the hours, and 60 doors for the minutes. We Bookfayries checked this and found out a sham. For statical reasons it was impossible to build so many real windows and therefore some windows are just painted on the wall.
The intangible time became a tangible space here. This reminds us on advent calendars showing quite often buildings with 24 windows and doors for all the December days to Chrismas Eve – but those are more beautiful although simpler.

DSC_0105

faked windows

Unsere Alltagserfahrung lässt uns annehmen, die Zeit sei eine Abfolge von Ereignissen, also eine Veränderung, so wie es Martin Suter in seinem Roman „Die Zeit, die Zeit“ unterhaltsam komisch beschreibt. Wir sehen die Zeit also als eine Bewegung im Raum wie in dem berühmten Lenin-Zitat zum Materialismus

In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als in Raum und  Zeit

Klar doch, wenn wir auf die Uhr schauen, sehen wir eine Bewegung (weil wir mechanische Uhren lieben)!

Our everyday experience let us think time as a series of events, as a change like Martin Suter describes it so entertaining and funny in his novel „The Time, the Time“. We consider time as movement in space like in the famous Lenin quote about materialism
There exists nothing as matter that moves, moving matter can only move in time and space
Of course, if we look at our watch, we see a movement (well, we like machanical watches)!

Diese scheinbare unlösbare Verbindung von Raum und Zeit wollte die Architektur dieser Kaserne dem damaligen Infanteristen vermitteln. Im Grunde war dies nichts Neues, denn bereits die Pyramiden und die Menhire der Megalithkultur verbanden Raum und Zeit miteinander, da sie, wie viele vermuten, als Kalender angelegt waren, um Aussaat- oder Erntezeiten zu bestimmen. Was jedoch in den Megalithkulturen dynamisch in der sich auf einen gewissen Punkt hin bewegenden Sonne ausgedrückt wurde, erstarrte im Absolutismus zu einem toten Prinzip. Diese Kaserne drückt das hierarchische Prinzip, aber nicht die Dynamik der Zeit aus. Man könnte fast denken, Aldous Huxley sei von dieser Kaserne inspiriert worden, als er seinen nie geschriebenen Roman über den Stillstand der Zeit „When Time Comes to a Standstill“ kurz vor seinem Tod plante.

The archicture of these barracks wanted to teach the soldiers this seemingly inseparable connection of time and space. That wasn`t that original because the pyramids and the menhirs of  the megalithic culture did also connect time and space by being designed as calendar too for giving the times for sowing and harvesting. But this cultures expressed a dynamic view of time because their buildings were directed on the movment of the sun or stars (as seen from the earth) whereas during absulotism time became a fixed principle. These barracks express this hierachical rigid ideas of those times. One could almost think Aldous Huxley has been inspired by these baracks when he was planning his never written novel „When Time Comes to a Standstill“ shortly before dying.

DSC_0074Kasernen Gamlebyen Fredrikstad Foto: Hanne Siebers

detail of calendar-barracks

Ist die Zeit eine bewusst wahrgenommene Abfolge von Ereignissen, entsteht der Eindruck einer Richtung der Zeit und wo es eine Richtung gibt, gibt es einen Raum. Allerdings stellten sich Philosophen und Physiker seit der Antike die Frage, ob Zeit und Raum erst durch das menschliche Bewusstsein erschaffen wurden oder ob sie unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung existieren. Die moderne Biologie sieht zumindest Zeitbegriff als durch die Evolution entstanden an.

Perceiving time as a series of events make us think of a direction of time and direction means space. Philosophers and physicist ask the question if the concept of time and space is either a product of the human consciousness or if time and space exist independently of perception. Modern biology considers at least the concept of time as a product of evolution.

DSC_0082 Kalenderkaserne Gamle Fredrikstad, Foto: Hanne Siebers

view from calendar-barracks to the old town of Fredrikstad

Für den etwa 50 Jahre vor diesem Bau gestorbenen Isaac Newton bilden Raum und Zeit eine Art Behälter für Ereignisse. In seinem Sinn stellt diese Kaserne ein Abbild dieses Raum-Zeit-Behälters dar, also einen Ort, von dem Ereignisse ausgehen. Gemäß des mechanistischen Weltbilds der damaligen Zeit hätte keine passendere Struktur für eine Kaserne gewählt werden können.

Isaac Newton, who died about 50 years before these buildings were built, described time and space as a container for events. In his respect the barracks are like this container, a place from which events start. Following the mechanistic view of those times one could have chosen not a better structure for  barracks. 

Der Aufklärer Immanuel Kant sieht Zeit und Raum als eine uns Menschen gegebene grundlegende Wahrnehmungsstruktur an. Zeit und Raum gehören für ihn zu den Bedingungen der menschlichen Welterkenntnis, die jeder durch seine Erfahrung kennt. Da wir den Raum erleben, indem wir uns in ihm bewegen und Bewegung zeitlich gebunden ist, erfahren wir den Raum nie ohne Zeit und umgekehrt. Genau das verdeutlicht dieses Gebäude, das zu Kants Lebzeiten gebaut wurde, und dem man einen pädagogischen Impetus unterstellen darf. Kasernen dienten u.a. der Volksbildung, nur das diese normalerweise nicht durch die Architektur vermittelt wurde.

In the age of enlightenment Immanuel Kant sees time and space as a basic structure of human perception. Knowledge is bound on time and space as we perceive space by movement and movement means time and vice versa. The barracks, which were built at Kant`s lifetime, show that clearly and one sees immediately their educational aspect. Barracks served the education of the masses.

DSC_0119

Gapestokken – the pillory of the barracks

Wer am Pranger steht, weiß, das ist ein Ort, an dem die Zeit sich dehnt. Spiegelt die Architektur der Kaserne eine erstarrte, sozusagen absolutistische Zeit wider, so ist der Pranger der Ort, an dem die subjektive Zeit erlebt wird. Ein halber Tag am Pranger mag wie die Ewigkeit wirken.

The pillory is the space where time becomes elongated. The architecture of these barracks reflect a rigit absulotistic or objective time whereas the pillory is the space where one experiences the subjective time. Half a day slot in the pillory may feel like eternaty.

Wurden historisch gesehen oft Zeit und Ort als separate Begriffe verstanden, so ist dies zwar für unsere Alltagserfahrung zutreffend, aber bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit gilt dies nach Einsteins Relativitätstheorie nicht mehr. In dieser Situation bedingen sich Zeit und Ort eines Ereignisses stets gegenseitig. Der Ort des Prangers bedingt die Zeit, wird uns jeder berichten können, der damals zu dieser Erfahrung gezwungen wurde, obwohl von Lichtgeschwindigkeit hier keine Rede sein kann – außer dem Wunsch, dass mit Lichtgeschwindigkeit die Zeit an diesem Ort verstreichen möge.

Time and space were mostly seen as separated in our past which applies to our everyday experience. But if we would accelerate to reach the speed of light this is not correct any longer, as Einstein`s theory of relativity tells us. In such a situation time and space are closely interrelated. The pillorary as a space has its own time although there is no velocity of light involved besides the wish that time may fly by with highest speed possible.

DSC_0159 die Kalenderkaserne Gamlebyen Fredrikstad Foto: Hanne Siebers

side entrance – today the barracks are used by alternative therapists (healing after fighting ;-)) and you find a coffeebar there

Das Zeit- und Raumgefühl, die Gedanken und insgesamt das menschliche Bewusstsein erscheinen stets gemeinsam, sie sind untrennbar miteinander verknüpft. In unserem Alltagsbewusstsein meinen wir das subjektive Zeit- und Raumgefühl, wenn wir von Zeit und Raum reden. Die Vorstellung einer objektiven Zeit und eines objektiven Raums, wie sie in diesem Gebäude vermittelt wird, basiert auf einem Streben nach Sicherheit, Kontinuität und unwandelbaren Strukturen.

Our feeling for time and space, our thoughts and consciousness are inseparable. If we talk about time and space in everydaylife we mean a subjective feeling of both. The concept of an objective time and space like in those barracks is based on a pursuit of security, continuity, and unchanged structures.  

Liebe Leser, dies waren unsere Einfälle, als wir Dinas Fotos von dieser Kaserne sahen, ein Gebäude, das wir, ehrlich gesagt, ziemlich autoritär finden. Aber Buchfeen haben eh nichts mit Kasernen und Militär am Hut. Wir fanden es jedoch spannend, uns angeregt durch Masterchen mit dem Raum-Zeit-Problem ein wenig zu beschäftigen, wir hoffen ihr auch.

Dear readers, those were our thoughts seeing Dina`s pictures of this military building that is considered as one of the finest in Northern Europe, a building that seem to us very autoritarian. But Bookfayries don`t like barracks and military anyhow, it`s not their world. It was fun to think about time and space inspired by our master. We hope it was fun reading this post for you as well.

Liebe Grüße vom kleinen Dorf am großen Meer
Greetings and Love
Siri und Selma, Buchfeen 🙂 🙂

Reise in Eis – Teil 2

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Eine Reise gleicht einem Spiel. Es ist immer etwas Gewinn und Verlust dabei – meist von der unerwarteten Seite.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Das Reisen führt uns zu uns zurück.
Albert Camus (1913-1960)

Foto Rolf Stange

Arktischer Halo über dem Schiff vor Kapp Brewster/Grönland

Christoph Ransmayr beschwört in seinem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ schauerlich die andere Seite einer Reise ins Eis: wenig heroisch, nur eklig. „Realistisch“ ist wohl das rechte Wort. Hätte ich diesen sprachlich brillanten Roman vor dem Beginn meines Tagebuchs gelesen, ich hätte mich nicht mehr getraut, über die Arktis zu berichten. Aber wie ermahnte mich Sir Siegfried eines Morgens beim Frühstück: „Lese nie in der Zeit, während du schreibst“. Sir Siegfried, der Hydrologe, ist derjenige unter uns, der im Stil eines ehemaligen Waldorf-Schülers keine grellbunte High-Tech Expeditionskleidung trägt. Wie ein englischer Gentleman-Explorer schreitet er bedächtig in brauner Cordhose und Wollpullover farblich angepasst über die tiefverschneite Tundra. So stelle ich mir Sir John Franklin vor: bedächtig, ruhig, umweht vom Hauch der Melancholie. Sir Siegfried und ich kommen uns näher – er väterlich, ich spiele seinen Sohn. Solche Beziehungen sind bei längeren Expeditionen üblich – hörte ich sagen.

Auf See, Foto Rolf Stange

Ein ganz normaler Tag auf See …

Hundert Seemeilen nördlich von uns sieht der Satellit dichtes Treib- und Packeis. Wir sind mitten drin. Diffuses Licht durch eine starke Sonne hinter Hochnebelschleiern lässt einsame Inseln wie ein Wunder erscheinen. Durch starken Nord-Wind wird das Eis zusammengetrieben. Naiv beneide ich Nansen, Nordenskjöld und Parry, die Monate bis Jahre nichts als Treibeis erlebten. „Möge diese Fahrt nie enden“ wünsche ich. Jeden Gedanken an ein Ende dieser Reise verbiete ich mir in dieser surrealen Traumlandschaft.

Mein Platz auf der Brücke. Heute hat sich der junge Navigationsoffizier den Spaß erlaubt, jedem etwas unbemerkt auf seinen Pullover zu kleben. Wochenlang Eis macht kindlich.

 Auf der Brücke bei Kakao mit Rum. Die Lücken zwischen den Schollen verringern sich. Bei ihrem Rammen geht ein Zittern durch das Schiff, das den jungen Rudergänger die Titanic erwähnen lässt. Für mich ist diese Eisfahrt meditativ, nicht für den Rudergänger, der die freie See bei voller Fahrt liebt. Die Dünung ist träge. Alles scheint verlangsamt bis zur Zeitlosigkeit. Zähe Trägheit umfängt mich, unfokussiert schaue ich in die Ferne, das gedämpfte Norwegisch der Offiziere auf der Brücke lullt ein. Der zweite Offizier sucht mit unbewegter Mine mit dem Fernglas ständig den Horizont ab. Unser Ornithologe fotografiert den Speicher seiner Kamera mit Elfenbein- und Dreizehenmöwen voll, um sich in der warmen Kajüte seine Zeit mit Löschen zu vertreiben. Träge schieben wir uns auf das freie Wasser zu, das dreißig Seemeilen vor uns liegt. Die Dünung nimmt zu, der Eisblitz liegt hinter uns.
Foto Klausbernd Vollmar, Eisblitz

Eisblitz, der helle Schimmer am Horizont, vor der Küste Ostgrönlands. Er zeigte schon Walfängern an, wo die Packeisgrenze liegt.

78055´ N, 12009´ E, -40 C, Sonnenschein

Kongsfjord im Sonnenlicht. Ich bewundere die subtilen Blautöne des Gletschereises, das in der Sonne glitzert. Nach Frühstück untersuchen wir eine Gletscherzunge. Wegen des guten Wetters kommen wir erschreckend nahe an sie heran. Und wenn der Gletscher jetzt kalben würde?

Und schon sind wir in Ny Ǻlesund, wo morgens das Thermometer –30 C im Schatten anzeigt, was ich inzwischen als warm empfinde. Es liegt Schnee wie auf der Postkarte, die ich im nördlichsten Postamt der Welt einwerfe. Nach Wochen unbesiedelter Wildnis kommt mir der Ort wie eine Weltstadt vor.
„Nördlichste Dauersiedlung der Welt, die auf 800 N liegt“, hatte ich gegoogelt. Der Ort besteht nur aus Forschungsinstituten von fünfzehn Nationen
Ny Ålesund ist ein kleiner bewohnter Fleck verloren in einer Urzeitlandschaft“ schreibe ich ins Logbuch.

Ny Alesund und Umgebung

Ny Ǻlesund ist postmoderne Arktis, ein Reich, in das Wissenschaftler flüchten, um den Intrigen an ihren Instituten zu entgehen“ erläutert mir Bohrkern-Bodo augenzwinkernd. „Wenn du es als Geologe über hast, Buchhalter der Landschaft und Leidender in deiner Familie zu sein, besinnst du dich auf die Goldgräbermentalität deines Fachs und verziehst dich in die Arktis oder Antarktis. Doch das heroische Zeitalter der Polarforschung ist Geschichte, die Romantik wurde im Kampf um Drittmittel ermordet.

Den rostenden Ankermast, an dem die Norge befestigt warjenes Luftschiff, mit dem Amundsen und Nobile den Pol überflogen, besuche ich pflichtschuldig. Er gibt sich dankbaren Fotografen zünftig vereist. Hinter ihm grasen einige Rentiere, etwas weiter vor ihm haben chinesische Forscher vor ihrer Station einen Schneemann gebaut, der in Eintracht neben den grimmig stilisierten Löwen steht.
Ny Ǻlesund – ein Leben im eisigen Elfenbeinturm, Hermann Hesses Gelehrtenrepublik …

Ich bin froh, als wir gen Grönland ins mächtige Eis weiterfahren.

Eisiges

Und noch mehr Eisiges

Bei manchen Dingen verhält es sich wie mit einem Eisberg. Rein oberflächlich betrachtet hängt nicht viel dran.“
Siegfried Wache

Schnell gewöhnt sich der Geist an das Enorme. Riesige Eisberge in Sicht, gegen die Caspar David Friedrichs Schollen, die er auf der Elbe skizzierte, putzig wirken. Vor uns eine Eisbarriere, die Rudergänger und Kapitän durch ihre Gläser beäugen. Stechendes Licht reflektiert auf Wellenrippeln. Am Radar wird die Entfernung gemessen, der Zeiger des Maschinentelegrafen nach unten auf „langsamste Fahrt“ geschoben. Elf Seemeilen vor uns eine weiße Wand über sechs Kilometer Fjordbreite. Die Eiswand rückt näher, zum Lunch werden wir sie erreichen. Kapitän und Rudergänger beraten die Passage, Ausweichmanöver nach backbord. Die Strömung wird stärker, Schaumkronen rollen uns entgegen. Abermalige Kurskorrektur, Stirnrunzeln. Der Rudergänger geht zum Ruder, durch Lücken im driftenden Eis wird per Hand gesteuert. Anweisungen vom Kapitän, der hinter ihm steht.

Suppe und viel Fleisch mit Gemüse werden im Speisesaal serviert, der Doc passt auf, dass jeder isst, sonst wird er nicht bei den Landgängen mitgenommen. Die Eisbarriere provoziert Tischgespräche über die Natur, die meist romantisch rezipiert wird. Adalbert Stifter und Novalis werden zitiert, während draußen driftendes Eis zerkleinert wird. Eine Schweizer Biologin behauptet, dass private Naturschützer oftmals der Blut-und-Boden-Ideologie zuneigen. „Der Mensch treibt durch sein Handeln die Evolution voran …“ alles andere geht im Kratzen und Rumpeln des Eises an der Schiffswand unter.

Bilder einer riskanten Eisfahrt durch den blockierten Fjordausgang

Ist es der Verlust des Ziels, der eine Eisfahrt faszinieren lässt? Wird Ähnliches variiert oder ständig Neues kreiert? Nebel kommt auf, die Perspektive verkürzt sich. Unser Expeditionsleiter spricht witzig (?) von der Rationierung der Lebensmittel. Seit vielen Jahren hat es an dieser Stelle nicht mehr so viel Eis gegeben, „obwohl allerorten von global warming gesprochen wird“, wie unsere chilenische Glaziologin kichernd kommentiert. Das Schaukeln des Schiffs lässt den Geist traumhaft schweifen, sich verlieren in den Tiefen des Unbewussten, dieses inneren Meeres, aus dem das Bewusstsein wie einzelne Inseln aufragt. Der Rudergänger fragt, was ich da schreibe.
„Wird sich die Eisbarriere nicht drehen, werden wir überwintern müssen“, meint er.  Ich hätte nichts dagegen.
Gegen Nachmittag nimmt die Eisdichte ab, es erscheint ein arktischer Halo. Die alten Walfänger nannten diese Regenbogen „fog lifter“, da sie klares Wetter ankündigen.

Aquarell eines Halos über dem Eisbrecher vor den nördlichen Fjorden Grönlands (aus dem Tagebuch der Expeditionszeichnerin Moni Obser)

„Maurice spricht um 18h Shiffszeit über Vogelkolonien“, verkündet das schwarze Brett. Maurice darf man sich nicht entgehen lassen. Geradezu genial ist, dass Maurice englisch vorträgt. Er meint zumindest auf englisch vorzutragen. Maurice beginnt über Girls zu reden. Atemberaubende Stille, der Verblüffungseffekt ist groß. Maurice ist ein gut gebauter, sportlicher Jungwissenschaftler, der als Schwarm der Frauen uns sicher noch in Sachen Girls aufklären kann. Er beginnt damit, dass es viele verschiedene Girls in der Arktis gibt. Stolz präsentiert er eine Karte, wo man die unterschiedlichen Girls auf Grönland findet.
Endlich mal sinnvolle Feldforschung“ wirft BohrkernBodo ein und fragt gleich interessiert, wer denn solche Forschung finanziert.
De Quebeck Bored of Girl Rechurch in Montreal
Ah, The Quebeck Board of Girl Research?” fragt BohrkernBodo nach und macht sich eine Notiz in seine kleine schwarze Kladde.
Maurice fängt mit den RaubGirls an.
Hört sich gefährlich an“, raunt mir Svea augenzwinkernd zu.
Nachdem er auf Flugverhalten und  Federstruktur zu sprechen kommt, wird uns klar, dass die Girls von Maurice seine Gulls sind, die er monatelang von einer eiskalten, verfallenen Hütte beobachtete. Maurice weiß alles über seine Girls. Was er nicht sprachlich ausdrücken kann, und das ist nicht wenig, verdeutlicht er anschaulich mit Gestik und Körperbewegung, dass man meint, ein Girl selbst würde vortragen.
Rauschender Beifall.

63 arktische Girls

Der Radarschirm zeigt einen Eisberg groß wie eine gotische Kathedrale acht nautische Meilen voraus.
Doch überwintern?

Copyright Klausbernd Vollmar, 2012

Liebe Grüße an euch alle von der Küste der Seefahrer
Klausbernd

Ich bedanke mich für die Kollagen bei Dina (Hanne Siebers, die weitere Eisbilder auf ihrem Blog zeigt) und für die ersten beiden Fotografien und einige in den Kollagen bei Rolf Stange, der als erfahrener Expeditionsleiter auf seiner informativen Website über die arktische Inselwelt berichtet. Vielen Dank an Moni Obser für die Abbildung aus ihrem Tagebuch und die Aquarelle, die alle von ihr stammen, und nicht zuletzt für das Klassentreffen der arktischen Girls 😉

Reise ins Eis – 1. Teil

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Du möchtest wissen, welchen Längengrad und Breitengrad ich inzwischen erreicht habe; ich habe keine Ahnung, was Längengrade und Breitengrade sind, doch diese zwei Wörter klingen so imponierend
Lewis Carroll, Alice im Wunderland

In meiner Bibliothek oben an der Tür zum Schlafzimmer stehen eigene Werke. Ein langes, sich leicht biegendes Regalbrett meiner Tagebücher ist überfüllt. Ich schreibe täglich Tagebuch, eine Gewohnheit aus fernen Zeiten, als meine weise Analytikerin mir es empfahl. Auf Reisen benötige ich dringend mein Tagebuch, das ich im Rucksack stets griffbereit zusammen mit einem Bleistift trage. Zu verweilen, zu schauen und zu schreiben ist für mich das Höchste und wenn noch ein Drink bereit steht, wird es paradiesisch.

Ich präsentiere euch hier Auszüge aus meinem Arktischen Tagebuch, dessen gebundenes Manuskript hinter mir in der Eisecke meiner Bibliothek steht. Dieses bebilderte Tagebuch habe ich mit der Hand geschrieben, da das ebenfalls ein Luxus für mich ist, und weil bei den niedrigen Temperaturen und kaltem Spritzwasser die Akkus der Smartphones oder Notebooks sich vor Schreck entladen.
Mir fiel auf, dass ich per Hand anders schreibe als mit der Tastatur. Meine Texte werden altertümlicher, was ich zuerst an einer Oberflächlichkeit lächelnd erkannte. Per Hand schreibe ich die alte Rechtschreibung. Aber zurück zu meinen Reisetagebüchern, die literarisch zu gestalten mir die Form in der Fremde gibt. Und so beginnt mein Arktisches Tagebuch:

Der erste Satz extra noch mal für Dinas Foto geschrieben 😉  Sie sammelt nämlich erste Sätze

Vorfreude

52.59 Grad N, 1.03 Grad E, 26 Grad, Windstärke 3 Bf N, klare Sicht

“Die ständig sich ändernde Farbe des Meeres beschäftigt das Auge, beruhigt den Geist und vertieft das Denken. Nie gelang es mir, die Farbe des Meers in Wort oder Bild zu fassen. Ich wohne an der nordischen See. Stehe ich am Strand und schaue hinaus über die Wellen, könnte ich das polare Eisschelf sehen, wäre die Erde nicht rund, die Luft zu dicht und meine Augen zu schwach. Das, was man nicht sieht, zieht einen hinweg.”

Die See wird allen neue Hoffnung bringen, so wie daheim der Schlaf die Träume bringt.“ Dieser Ausspruch wird Christoph Columbus zugesprochen. Also heuerte ich hoffnungsvoll an, wenn auch die Heuer ausblieb, dafür die Ehre von der Expeditionsleitung betont wurde. Wohin die See uns trug, seht ihr auf der Karte unten

Die Zeichnung stammt von Moni Obser, der Expeditionszeichnerin, und wurde im Stil alter Karten der Arktis gezeichnet

Dieses Tagebuch handelt von der Wahrnehmung einer uns Mitteleuropäern fremden Landschaft. Je fremder uns eine Weltgegend anmutet, desto anfälliger wird sie für unsere Projektionen.
Verschiedene Menschengruppen nehmen die Landschaft unterschiedlich wahr. Die Augen des Biologen erkennen anderes als die des Geologen, des Jägers, des Touristen und des Umweltschützers. Genau betrachtet, befindet sich jeder in einer anderen Landschaft, die von seinen Vorstellungen, Erwartungen und Gewohnheiten geprägt wird. Beachten wir die historische Dimension, werden die Unterschiede der Sichtweise noch deutlicher. Der mythologisch geprägte Blick eines Brendan sah im 6. Jh. in der Arktis das Tor zur Hölle, der begehrliche Blick wikingischer Kolonisten des Mittelalters sah Grönland als grünes Land der Hoffnung, während im Faschismus der Norden der Ort war, aus dem der Übermensch aus dem Erdinneren hervortritt, um die Welt zu retten. Ihrer elitär-rassistischen Sicht des Landes der Heroen steht der sorgenvolle Blick des heutigen Umweltschützers gegenüber, der in der Arktis allerorten den Verfall erblickt.

Typisch hocharktische Landschaft – unten links ein kalbender Gletscher, die weißen Pünktchen auf dem Wasser des Fjords sind beachtliche Eisberge

Der Norden gleicht einer gestaltwandlerischen Frau, die den männlichen Geist mit ihren vielen Gesichtern verführt. Lese ich über den Norden, verblüfft mich, wie unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten der Norden gesehen wurde. Für die alten Griechen war er der unbesuchte Ort, der Paradiesvorstellungen anzog. Als kühne Seefahrer den Rand des Nordens berührten, schlug diese Sicht ins Gegenteil um. Der Norden wurde zur Hölle, zum gefährlichen Ort, der Menschen verschlingt. Der französische Seefahrer Jacques Cartier bezeichnete noch 1534 die arktischen Gefilde als das Land, das Gott Kain zugedacht hat. Als Ort der Extreme provoziert der Norden extreme Sichtweisen: entweder wird er zum gelobten Paradies oder zur menschenfeindliche Hölle. Als die ersten Schiffe in den hohen Norden vorstießen, war es die Ausbeutung dieser jungfräulichen Gegend, die raue Burschen aus südlicheren Gefilden anzog. Ihr Blick war von ökonomischer Gier geprägt. Die Menschheit erlebte ihren ersten Ölboom, der mit gnadenlosem Abschlachten der Wale und stinkenden Tranküchen die weltferne Arktis vergewaltigte. Als die Säuger des Meeres abgeschlachtet waren, folgte mit den Trappern die systematische Dezimierung der Säuger des Landes. Im 19. Jahrhundert bis nach der Eroberung der Pole, war die Arktis das Land, in dem sich echte Kerle bewährten. Sie wurden als die ersten beschrieben, welche die Eiswüsten bezwangen und froh waren, nach ihren Eroberungen schnell wieder nach Hause zu kommen. Zugleich begann man zaghaft gegen Mitte des 19. Jahrhunderts sich für die Bewohner der Arktis zu interessieren und aus wissenschaftlichem Interesse den Norden zu bereisen. Alle diese Betrachtungsweisen leben in unserem heutigen Bild des Nordens fort. Sie finden ihren Niederschlag im Literarischen und den Sachbüchern über die Arktis, die seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als idealisierter Ort der letzten Wildnis “in” ist. Selbst die moderne Werbung nutzt die Faszination der Polargebiete, wenn sie textet: “Peary entdeckte den Nordpol, Amundsen den Südpol. Und ich bin die offizielle Entdeckerin des Ruhepols” (Werbung für die Zeitschrift “mein schöner Garten”, Juni 2008).
In der Wahrnehmung der Inuit bezieht sich jede Landschaftsformation auf eine mythologische Geschichte. Landschaft und Mythos sind untrennbar mit einander verbunden. Die Landschaft bietet ein kollektives Gedächtnis und so nicht nur eine geografische, sondern auch eine psychologische Orientierungshilfe.

Das arktische Tagebuch (für alle Bilder: draufklicken = groß)

George Berkely bemerkte bereits in den ersten Tagen des 18. Jh., es gibt keine objektive Wahrnehmung. Theoretisch ist das dem gebildeten Reisenden bewusst, praktisch meint er jedoch, Realitäten zu erblicken. Wird der Blick auf die Landschaft sich seiner Subjektivität bewusst, öffnet er sich dem künstlerischen Schaffen. Sie haben in diesem Sinn soeben in einer subjektiven Beschreibung der Arktis zu lesen begonnen. Möge es Ihnen Freude bereiten.

Der erste Blick am Morgen: vereinzelte Eisschollen. Aus dem Bullauge sehe ich eine das Meer beleckende Gletscherzunge. Hektisch schraube ich das Bullauge auf, fotografiere auf nüchternen Magen. Nun weiß ich, dass ich in der Arktis bin.

Aus meiner Kabine…

Die Arktis ist Eis. Kein anderes Medium gestaltete das Gesicht unserer Erde so tiefgreifend, so langanhaltend wie das Eis. Der Schweizer Glaziologe und Exzentriker Louis Agassiz nannte es einst „die große Pflugschar Gottes“.
Soweit zur Landschaft, aber was nutzt die schönste Landschaf, wenn die Gefährten stören?

Gruppenreisen sind mir ein Gräuel. Aber wie komme ich anders in die Hoch-Arktis? In der Not habe ich mich einer kleinen wissenschaftlichen Expedition von zehn Wissenschaftlern und fünf interessierten Laien angeschlossen. Diese Gruppe bereitet mir kein Grummeln im Bauch, da uns alle ein Erkenntnisinteresse verbindet und wir erstaunlich homogen sind, obwohl wir acht verschiedenen Nationen angehören. Mit solch einer Gruppe zu reisen, hat den Vorteil, dass Wissenschaftler liebend gern ihre Forschungen erklären. Zumindest rationalisierte ich so während meiner Reisevorbereitungen, als mir erst richtig klar wurde, dass ich mit 14 weiteren Personen plus Besatzung und Expeditionsführung auf engen Raum reisen werde. Bei einer Urlaubsreise wäre mir in solch einem Rudel zu fahren völlig undenkbar. „Meine Freundin und ich und bloß kein anderer“, so lautet meine Devise. Aber das hier ist etwas anderes.
Wir sind aneinander freundlich interessiert. Drei Tage auf See in lebensfeindlicher Gegend lassen Exzentrizitäten hervortreten. Die Atmosphäre gleicht der des Zauberbergs mit Gesprächen über Hirnstrukturen, Intuition und Literatur, neben denen über Eiskernbohrungen und der Losung von Eisbär, Ren und Walross. Einige sind nicht hier, sondern bei ihren letzten Forschungsabenteuern, wenn sie von Bhutan, Kamschatka oder der Beringsee schwärmen. Jeder Narzissmus wird schmunzelnd akzeptiert. Da sehe ich gerade Sir Siegfried, der mit nach hinten gestrecktem Arsch, den Rücken durchgedrückt die feinsten Nuancen des arktischen Himmels auf seinen Film bannt. Er liebt seine Hasselblad, den Belichtungsmesser – und die Literatur. Ginge unser Eisbrecher unter, er würde gelassen Single Malt trinkend mit voller Bassstimme  einen klug sarkastischen Kommentar abgeben. Neben ihm stände der Rentierjäger stumm sein Zigarillo rauchend, unbewegt nach Moby Dick ausschauend. Die Zeichnerin würde den Untergang farbgetreu malen, bis eiskaltes Wasser ihr Aquarell reinwaschen würde. Jaques, unser französischer Birdman, würde sich vogelfrei in die Lüfte erheben einen Möwenschrei ausstoßend. Ich dagegen würde flugs mein Tagebuch wasserdicht verpacken, danach mit BohrkernBodo aufs Hier und Jetzt meditieren – nach einem kräftigen Schluck aus jener Buddle Rum, die sicher in meinen Gummiwanderstiefeln ruht. Natürlich wüsste ich, warum es zu dieser Havarie gekommen ist. Schuld sind genau diese grünen Gummiwanderstiefel. Das weiß doch jeder: Grün als Farbe des Landes bringt Unglück auf See. Kein Fischer lässt bei uns in Norfolk Grünes auf sein Boot. Neptun steht auf Blau.

Tage später

80038´ N, 20057´E, -90 C, Schneetreiben, dichtes Treibeis, geringe Sicht, mäßiger W-Wind.

Nord-Spitzbergen im Hochsommer

Es herrscht nach mitteleuropäischen Maßstäben tiefster Winter mitten im August. Weihnachtsstimmung kommt auf. Ich befinde mich an der nördlichsten Spitze Westeuropas. Die Decks voller Schnee. Dichter Nebel – „Pottendick“ wie der Seemann sagt – und heftigster Schneefall. Das Meer liegt ölig ruhig in einer geheimnisvollen Vielzahl von Grautönen. So habe ich mir Ultima Thule vorgestellt. Schemenhaft ist Land an Steuerbord zu ahnen. Das Schiff nähert sich der noch unvermessenen Isflakbukta, die ihrem Namen „Eisschollenbucht“ Ehre macht. Einige Schollen sind so riesig, dass man Häuser auf ihnen errichten könnte. Als ich die Brücke erreiche, taucht backbord die Parry-Insel verhüllt im Schneegestöber auf. Schrill piepst das Echolot seine Tiefenwarnung, Maschine 1/4 Kraft zurück.

In der warmen Schiffsbibliothek und zugleich Bar werde ich fündig: Leutnant William Edward Parry war ein Arktisforscher, den ein erlesener Kultursnobismus auszeichnete. Für ihn waren Fischer, Walfänger, Inuit zu tief angesiedelt, als dass er von ihnen lernen wollte. Es gibt eine Zeichnung, die Parry in Frack und Zylinder beim Treffen mit den Inuit zeigt … Meine Gedanken wandern vom eitlen Parry zu meiner norwegischen Freundin. Vor Wochen mailte sie: „Das arktische Norwegisch ist schnörkeloser, kühler, eben arktisch. Zum Beispiel wird unser Wort kjærlig (liebevoll) mit dem arktischen Wort verdifull (wertvoll) ersetzt. Kjærlig gibt es im arktischen Norwegisch gar nicht.“  Angesichts solcher Natur zieht die Sprache sich, das redseelige Klischee fliehend, ins Asketische zurück, fällt mir jetzt ein.
“Ready for landing Zodiaks” reißt mich der Lautsprecher aus meinen Gedanken.

Bootspartie im August

Ich bin froh, bei diesem Landgang Wandergummistiefel mit Lammfellsohle, Goretexhose über Cordhose, darunter Thermounterwäsche, HighTec Anorak, zwei Wollpullover und zwei Handschuhe übereinander zu tragen. Meine weltverschönernde Sonnenbrille habe ich aufgesetzt und eine doppeltgestrickte kanadische Wollmütze über Ohrenschützer, die zugleich als Kopfhörer für den Funk dienen. Wir suchen uns einen etwa acht Seemeilen langen Weg durch dichte sich drehende Eisschollen, um mit den beiden Zodiaks landen zu können. Eis drängt uns ab, es schneit dicht. Die Landschaft ist zum fotografischen Negativ geworden. Wie grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotos erscheinen die steilen Berge, entrückt, eher Kunst als Natur. Weltfern, wunderschön. Es ist unsicher, wie lange wir bleiben können.

Graueislandschaft

 

Wird das Eis zunehmen?“, „Kann das Bodenradar Eisbären in diesem Schneegestöber ausmachen?“, „Wird unser Schiff vom Eis bedrängt werden?“ lauten verzagte Fragen als wir “Entdecker” erst die Gewehre laden, ehe wir die beiden Zodiaks am verschneiten Walknochen am Ufer sichern. Wir möchten von dieser Bucht die nördlichste Stelle auf Land auf unserer Expedition erreichen. Von hier versuchten einige den Nodpol zu bezwingen, so weit wollte ich allerdings heute nicht gehen.

Ich kann meinen Blick nicht von den Bergen abwenden, während die anderen auf eine kleine Gruppe Walrosse zustreben, die wie braune Jutesäcke aussehen. Diese größten Robben der nördlichen Halbkugel liegen verdauend auf dem einzig schneefreien Platz weit und breit.

Walrosse nach dem Verspeisen einer großen Portion Muscheln

Schnell ein paar Fotos geschossen – und das mit Handschuhen -, dann wandern wir gen Norden. Eiskalte Polarwüste wie in einer Tiefkühltruhe, nichts ist unterscheidbar, ich versinke im hellblendenden augenfeindlichen Grau. Ist das der tödliche White Out? Bloß nicht stehen bleiben! Immer bewegen. Bei 80052´N, 20052´E erreicht uns der Funkspruch unseres Kapitäns “massives Treibeis bedroht Schiff”. Ich lasse es mir dennoch nicht nehmen, meine nördlichste Zigarette zu rauchen. Plötzlich höre ich die Stille, die sich in einem vieldimensionalen Raum öffnet. Der unbegreiflichen Macht, welche die Umgebung auf mich hat, gebe ich mich hin. Zeit scheint sich aufzulösen. Der sich erweiternde Raum wird zeitlos. Dann geht es zurück. Beißende Kälte im Gesicht, fantastisches Licht, euphorische Stimmung. Obwohl ich mich für einen lebensfrohen Menschen halte, hätte ich hier in Frieden sterben mögen.
Von solchen Gedanken berichtete schon Adolf Erik Nordenskjöld bei seiner Bezwingung der Nordost-Passage: Man geht hinaus in die arktische Schönheit, obwohl man weiß, dass dies der Weg der Todgeweihten ist. Der schwedische Entdecker kettete auf Wunsch seine Männer am Boot fest. Der Tod ruft verführerisch in der Arktis. Welch romantisch grausame Vorstellung. Sterben auf dieser verwunschenen Insel am Rande des Globus, heldenhaft … Ja, das ist der beste Weg, in die Encyclopedia Britannica aufgenommen zu werden.

Morgens von meiner Kabine aus aufgenommen

Gedanken in der Schiffsbar

Wir fahren durch eine wunderbare Welt in Schwarz-, Weiß-, Türkis- und Blautönen. Das ewige Eis ist weißer als Schnee, fällt mir auf, weil ich es bei Helge Schneider gelesen hatte. Ich frage mich, welche Landschaft ich hier erlebe. Kindlich empfinde ich, wenn ich mit staunenden Glitzeraugen die Eindrücke in mich einsauge. Hingabe pur. Dann möchte ich das beschreiben. Sogleich bedrängt mich der Zweifel, ob ich nicht einzig das erkenne, was sich in meiner Vorstellung bildete. Ich sehe eine Arktis, die mir in Büchern und durch unsere Expeditionsleiter auf dem Silbertablett präsentiert wird. Nehme ich überhaupt eine Beziehung zu dieser äußeren Landschaft auf, die in sicherer Entfernung von mir am Schiff vorüberzieht? Die lebensfeindliche Macht dieser Landschaft, ihren Schatten, bekomme ich nur mit, weil ich weiß, welche Dramen sich hier abgespielt haben, enttäuschte Hoffnungen, Verzweiflung und Tod. Da gibt es eine innere Landschaft, die von meinem Wissen geprägt ist und die in dieser äußeren Landschaft erscheint. Sehen wir nicht immer auch die Geschichte der Landschaft? Die Geschichten, die sich dort abspielten, machen sie zu dem, was sie für uns ist.
Sehen wir nicht alle eine Arktis, die es so nicht mehr gibt? Auf solch einer Reise idealisiert jeder. Deswegen fährt man doch! Ich merke es im Bauch, wenn ich Land betrete, das wenige vor mir betraten. Ich sehe sie romantisch als Bühne, auf der „Heldentat und Tod“ gespielt wurde.

Treibeis schabt am Schiff, das sich mit drei Knoten den Weg bahnt, stecken bleibt, Eis bricht und schiebt. Abends wieder dichter Schneefall, die Decks sind tief verschneit.

Eine Seite aus Monis Tagebuch (Hoch Arktis)

© Klausbernd Vollmar, 2012
© Moni Obser, 2012 für beiden Illustrationen (http://www.msobser.de)

P.S.

Ich habe auf dieser Expedition im Gegensatz zu anderen Reisen in die Hoch-Arktis zum ersten Mal fotografiert. Ich fotografiere wenig auf Expeditionen, da unter den Umständen das Fotografieren für mich stets in Stress ausartet und mich abhält, die Großartigkeit der Landschaft zu spüren. Ich bitte deswegen um Nachsicht, dass meine Fotos eben nur Knipsis sind.

Liebe Grüße an alle und, um euch schon neugierig zu machen, im zweiten Teil meines Beitrags kommt ”really big ice”
Klausbernd

Bücher der Eisecke

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A library is like a gateway for the imagination we can go through and find a whole new world. Nobody should shut those gates.
Maeve Binchy

Neulich läutete die alte Schiffsglocke an unserer Tür ziemlich laut. Ein junger, kühn tätowierter Mann lieferte ein lang ersehntes Päckchen von der lieben Dina in Bonn. Während Masterchen schnell Geld holte, schaute dieser Mann sich neugierig um. Ihr müsst wissen, die Eingangshalle bei uns in Rhu-Sila ist sehr groß. Das Erste, was jeder zu sehen bekommt, ist unsere Bibliothek, die sich dort bis hoch ins erste Stockwerk hinein ausbreitet. Bücher bis unter der Decke.

Sieht ihr uns beiden, Siri & Selma? Das ist unser Lieblingsplätzchen auf dem Regalbrett 3 & 4, von wo wir uns die Welt aus cool betrachten 🙂 (Draufklicken = groß)

Meine Schwester und ich lagen piepsstill dicht beieinander auf Regalbrett 4. Wir beobachten den stierenden Lieferanten.
Diese Szene spielt sich immer gleich ab, darauf haben wir oft fünf Fayrietaler gewettet, und der tätowierte Mann enttäuscht uns nicht.
Der Master, etwas atemlos die Treppe herunterstürmend, wird noch gefragt, bevor er ganz unten ist: „Wow, Sie haben aber viele Bücher, haben Sie die alle gelesen?“
„Ja. Und nicht nur die!“ grinst Masterchen.
Der Lieferant war mächtig beeindruckt von der Anzahl der Bücher aller Größen und Farben. Als Masterchen anfing, über seine Bibliothek zu erzählen, kamen wir auf die Idee, euch die verschiedene Bereiche unserer Büchersammlung etwas näher zu erläutern.

Wir beginnen heute mit der Eisecke. Unsere Eisbücher stehen allerdings nicht in der Halle , oh nein, die Eisecke ist eine besonders gepflegte Ecke im Wohnzimmer.  Unser Master ist keineswegs nur ein Lehnstuhlexplorer, er hat wirklich an echten Expeditionen in die Arktis teilgenommen. Wenn er heute gemütlich in seinem Sessel sitzt und schreibt (wie unten in der Collage), hat er genau diese Ecke im Rücken. Inzwischen 20 laufende Regalmeter (das hat seine Archivarin Siri gemessen) voller Bücher und Karten über Gegenden, in denen wir Buchfeen uns zu Tode frieren würden, stehen dort starr nebeneinander – „zum Gänsehaut kriegen!“ Wir Buchfeen stellten in diesem Regal alle Werke über die Polargebiete, über Polarforscher und deren Schiffe, damit wir sie wieder finden, wenn Masterchen sie braucht, was ziemlich oft der Fall ist. Hier stehen auch Romane über Expeditionen, Logbücher, Mythen der Inuit und Samen und was nicht alles dazu gehört. Und wie ihr unten seht, bei uns laufen schon die Pinguine über die Enzyclopedia Britannica.


Als Buch ist es eine hohe Ehre von uns in dieses Regal aufgenommen zu werden, ja, wir Buchfeen sortieren diese Ecke immer wieder, stauben sie sogar ab und polieren manchmal die Buchrücken.

Das war nicht immer so. Wir können uns noch gut daran erinnern, als Masterchen im Brustton der tiefster Überzeugung verkündete: „Ich möchte einen bücherfreien Raum!“ Wir kicherten nur.
Als Bücher begannen vor anderen Büchern in den Regalen zu stehen, verteidigte Masterchen immer noch so zäh wie blind seine Entscheidung über den buchfreien Raum. Er überlegte, ob nicht Rollregale vor den bestehenden Regalen das Problem lösen würden, verwarf es aber sogleich angesichts der technischen Schwierigkeiten. Dann begann es, unmerklich zuerst, listig, dass Bücher im buchfreien Raum einfach liegen blieben, sich bald zu kleinen Stapeln neben dem Schaukelstuhl erst, dann auch am Kamin und zuletzt die Fußleiste entlang sammelten. Als sie auf einer Wandlänge Aufstellung genommen hatten, konnte wir größere Konflikte nur vermeiden, indem wir, unsere weißen Taschentüchlein schwenkend, kapitulierten und Masterchen zum Holzmann schickten, um Regale bauen. Das war das Ende des Traums vom buchlosen Zimmer.

Wir Buchfeen werden immer wieder gefragt, welche Bücher wir dem geneigten Leser empfehlen können. „Kommt auf den Leser an“, würden wir antworten, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt, legen wir euch aus dieser Ecke folgende Bücher ans Herz. Wir Buchfeen konnten uns schnell einigen, da wir Masterchens langen Aufsatz über „Die Inuit in der Literatur“ lektorierten und bearbeiteten. Wir kennen uns da aus! Hier unsere höchstpersönliche Buchfeenempfehlung für euch:

Expeditionsberichte
Fritdtjof Nansens „In Nacht und Eis“, ein Expeditionsbericht, der wunderbar geschrieben ist in einer Mischung aus Beobachtungen, Erinnerungen, Träume, Fakten und Logbuch. Nansen konnte sehr gut schreiben – er ließ nicht wie sein „Schüler“ Amundsen teilweise durch einen Ghostwriter schreiben. Freud las seinen Kindern zur Nacht aus Nansens Buch vor. Unsere besondere Ausgabe, auf die Masterchen mächtig stolz ist, könnt ihr euch hier ansehen. Als unser Master zum ersten Mal in NO-Spitzbergen mit dem Eisbrecher herumfuhr, da las er zum gemütlichgrausigen Knirschen des Eises an der Bordwand dieses Buch – wenn auch Nansen sich einiges östlicher durchs Eis quälte. Das sind die ersten Sätze von „In Nacht und Eis“, um euch ein Gefühl, für die teilweise mächtige Sprache Nansens zu geben: Ungesehen und unbetreten, in mächtiger Todesruhe schlummerten die erstarrten Polargegenden unter ihrem unbefleckten Eismantel vom Anbeginn der Zeiten. In sein weißes Gewand gehüllt, streckte der gewaltige Riese seine feuchtkalten Eisglieder aus und brütete über Träumen von Jahrtausenden.“

Als fein bebilderter Reisebericht hat uns auch von Arved Fuchs „Kälter als Eis“ gefallen. In diesem Buch geht es um die Durchquerung der Nordost-Passage auf Nordenskjölds Spuren, dem die erste Durchquerung dieser Passage gelang. Ich, Selma, war völlig angetan von Rainer Ullrich „Skizzen aus der Nordost Passage“. Ja, wir Schwestern blättern beide gern auf unserem Regalbrettchen in diesem genial illustrierten Logbuch herum. Sooo schön kann man Reisetagebücher gestalten – wenn man Expeditionsmaler ist, ein Beruf, der längst noch nicht ausgestorben ist. Bei uns im kleinen Dorf wohnt so einer mit langem weißen Bart und struppigen Augenbrauen, der seltene Vögel in noch seltener erreichten Gebieten malt.

Entdeckerbiografien
Über die großen Entdecker solltet ihr unbedingt die so spannende wie ausführliche Biografie von Thor Bomann-Larsen „Amundsen“ lesen und von Roland Huntfort (der zuvor über Shackleton geschrieben hatte) die ebenso ausführliche Biografie „Nansen“. Wer`s nicht so genau wissen möchte, für den genügen die Biografien von Nansen und Amundsen in dieser feinen Reihe dünner Büchlein „rororo Monographie“, die in unserer Bibliothek neben den beiden ersten dicken Schinken stehen und zu Unrecht gar nicht auffallen. Die rororo Monographien haben uns noch nie enttäuscht. Sie sind weitaus ausführlicher als Wikipedia und meist toll bebildert – aber das nur nebenbei. Wenn ihr nur eine dieser dicken Biografien lesen wollt, solltet ihr „Amundsen“ wählen, er war ein erstaunlich komplexer und deswegen schwieriger Zeitgenosse, man warf ihm ein „Herz aus Eis“ vor.

Romane
Von den Romanen über die Arktis müsst ihr den Dänen Jörn Riel lesen. Wir haben die ganze schön editierte Reihe vom Unionsverlag zusammenstehen und egal, in welchem Buch wir blättern, Jörn Riel unterhält stets köstlich. Wer richtig Skurriles zum Sichschieflachen liebt, der sollte unbedingt „Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf“ lesen. Ihr werden es nicht bereuen, versprochen, großes Buchfeenehrenwort! Masterchen liebt besonders den in der gleichen Reihe erschienenen Juri Rytcheu, den Autor der Tschuktschen (das ist in Nordost-Sibirien). Uns gefällt vom ihm besonders „Traum im Polarnebel“, ein Roman, der wie alle Bücher Rytcheus euch Leser in eine völlig fremde Welt entführt, weit, weit weg von unserem gewohnten Leben im lieblichen England. „Gut beschrieben“, meinte Masterchen, der ein Hauch dieser Anderswelt in Ittoqqortoormiit, eine Jägersiedlung in NO-Grönland am Eingang des Scoresby-Sunds erlebte.Wir verstehen schon, warum die Inuit keine Feen kennen. Das ist kein Klima für uns.

Wissenschaft
Vorne vor dem Regal steht der großformatige „Prachtband“ „Der Ruf des Nordens“ des leidenschaftlichen französischen Inuit-Forschers Jean Malaurie. Das Buch ist so groß, dass es in kein Regal passt und schwer ist es dazu. Im Schuber mit Foto eines edel gekleideten Inuit mit altertümlichem Messingfernrohr steckt es. Es ist ein gut lesbares wissenschaftliches Werk, das alle Aspekte der Inuit rund um Nordpol betrachtet. Es besticht nicht nur durch all die Fakten, sondern auch durch seine Fotos. Aber ja, wie mit allen besonders schweren und großformatigen Büchern haben wir Unterbringungsschwierigkeiten. Sind sie schön wie Malauries Werk gestaltet, dürfen sie unten auf dem Boden vor dem Regal stehen, sozusagen ausgestellt, was die höchste Ehre eines Buchs bei uns ist. Masterchen hatte uns nur von den privilegierten Grönländern erzählt, die sich speziell an der Westküste einen beachtlichen Lebensstandard leisten können. Malaurie schreibt auch über die Verelendung der östlichen Inuit-Gruppen in NO-Sibirien. Uns schauerte beim Betrachten seiner Fotos.

Also, wisst ihr jetzt, was ihr in den Ferien lesen wollt?

Zum Schluss einen kurzen Vorgeschmack auf einen unserer nächsten Beiträge, eine Reise ins Eis. Eine wahre Bilderbuchreise!

19.8.2007

Herzliche Grüße von den munteren Buchfeen Siri & Selma

P.S.: Maeve Binchy, von der das Anfangszitat stammt, starb am 30. Juli dieses Jahres nach kurzer Krankheit im Alter von 72 Jahren.

Leseratte trifft Bücherwurm

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Leseratte trifft Bücherwurm

Seid ihr auch so völlig gesättigt an Filme und Berichte über Eismänner und die Arktis? So richtig satt? Also Tantchen kann das Wort Eis nicht mehr hören. Im allabendlichen Fernsehprogramm gab es wochenlang nichts als Pole und Gletscher, als gäbe es die Weißwüste bald nicht mehr. Aber ich kenne da jemanden, der richtig verbissen eishungrig ist. Ein wahrer Feinschmecker, wenn ihr mich fragt.
Du meine Güte, bei uns war was los, als Dina die vielzitierte, ehrenwerte Ausgabe von Nansens  „Farthest North“ – erste englische Auflage! – in die Hand nahm.

Glücklicherweise wurde der Nansen nicht angeknabbert, klar doch, der ist zu zäh!

Familie Buchwurm lebt in diesem Schatz wie im Schlaraffenland. An den ersten dreißig Seiten hatte sie sich schon dick und rund gefressen. „Für den  Buchwurm ein  Essen wie es im Buche steht“, kicherte ich, da musste selbst Dina schmunzeln.
„Darüber hat doch Masterchen in seinem Roman geschrieben!“, wirft Siri flattrig ein, „ich lese dir mal paar Abschnitte vor, an denen ich mitgearbeitet habe, darf ich?“

Er zog die beiden Bände von Nansens „Farthest North“ aus dem Regal, die englischen Erstausgabe von 1897. Der eine Band war nicht im besten Zustand, das einzige Buch in Viktorias Sammlung, in dem die Larven der Nagekäfer verheerende Schäden am Buchblock hervorgerufen hatten. Die Seiten waren unten an den Ecken rund gefressen und Wurmgänge zogen sich tief hinein. Ob der Bücherwurm noch aktiv ist? Er hatte einmal gelesen, Schwefelkohlenstoff helfe zuverlässig gegen die Buchwürmer, die eigentlich Käfer sind, ein Mittel, das fürchterlich stank. Da die Nachbarbücher nicht befallen waren, entschied sich Gerrit gegen den Einsatz von Chemie. Er wollte nicht, dass alle Bücher der Eisecke am Ende womöglich wie faule Eier riechen würden. Und wer weiß, ob das Gift nicht auch die Nerven der Menschen angreift? Er sagte sich, dass Wurmlöcher einem edlen alten Buch Würde verleihen. Sind die Gänge, die die Larven in die Bücher hineinfressen, nicht ein schönes Sinnbild für die Ideen, die sich in Büchern fortsetzen und sich durch sie hindurch ziehen? Hatte ihn nicht Martin als Bücherwurm bezeichnet? Nein, die Bücherwürmer bleiben, beschloss er, wir Bücherwürmer sollten zusammen halten.

Gerrit, der Bücherwurm. Freundlich klag das nicht gerade. Bücherwurm und Leseratte – warum werden Menschen, die viel lesen, mit solchen ekelhaften Tieren verglichen? Er hatte früher Tanja als Leseratte bezeichnet. Sie hatte heftig protestiert, sie wollte keine Ratte sein. Ratten, Würmer – will man damit die Intellektuellen pauschal als Abweichler abwerten oder trifft das nicht auch einen wahren Kern, leben die Intellektuellen nicht wie Ratten und Würmer im Dunkeln, zwischen ihren Büchern, wo sie das Leben verpassen? Dieser Nansen, dessen dickes Buch er nach wie vor in der Hand hielt, der hatte es richtig gemacht, der war nicht zwischen den Druckseiten stecken geblieben. Sportler, Politiker, Menschenrechtler, Forscher, Erfinder und Philosoph, eigentlich ein modernes Universalgenie, nein, der hatte seine Zeit wirklich nicht mit selbstverliebten intellektuellen Spielereien vertan.

Gerrit und Mary unterhielten sich über das Verlieren von Bücher und den Buchklau. Gerrit las ihr aus seinem Notizbuch einen Spruch vor: „Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Der Schlagfluss soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Buchwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Wurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren, auf immer.“
„Wer denkt sich denn so was aus?“, fragte Mary.
„Angeblich die Mönche des Klosters San Pedro in Barcelona. Aber da hat es nie ein Kloster gegeben. Das hat sich vor hundert Jahren ein Krimiautor ausgedacht, Pearson heißt der.“
„Erfunden, aber gut erfunden. Den Spruch stelle ich auf meinem kleinen Bücherregal auf“, begeisterte sich Mary. Sie fand die Vorstellung von Würmern, die in den Eingeweiden herumnagen, besonders ekelig und abschreckend.
„Das wird mit uns allen geschehen“, warf Gerrit lachend ein, „denn wer hat nicht ein Buch in seiner Bibliothek stehen, das geklaut oder ausgeliehen und nicht zurückgegeben worden ist? Buchliebhaber“, so folgerte er, „sind deswegen immer angenagt. Sie liegen im Sarg – durchlöchert von der nicht ruhenden Mühe der Buchwürmer, die wie die Raupe Nimmersatt die Haut in perforiertes Pergament verwandeln.“
Mary fasste zusammen: „Buchliebhaber sind also besonders offen.“
„Tote Buchliebhaber!“, berichtigte Gerrit.

Ob die Hitze des Feuers wohl Familie Buchwurm vertreibt?

„Aber ich weiß noch etwas, das unser Masterchen nicht geschrieben hat!“ rufe ich, die liebkluge Selma ganz angeregt durch Masters Texte. „Buchwürmer werden die Menschen wie Masterchen und Feen wie du, liebe Siri, genannt,  weil sie sich die Bücher oft so nah vors Gesicht halten, dass es aussieht, als ob sie diese aufessen würden. Außerdem ernähren sie sich von Büchern.“
„Aber ich weiß was, was du nicht weißt: Diese nicht gerade charmante Bezeichnung wurde erstmals 1747 von dem Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing in seinem Lustspiel „Der junge Gelehrte“ (3. Aufzug, 1. Auftritt) verwendet. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts war Buchwurm als Spottname für lesende Leute und Feen üblich. Überhaupt, finde ich es höchst frech, eigentlich unverschämt, dass es noch andere Bezeichnung aus dem Tierreich für uns gibt, nämlich Leseratte. Aber immerhin sind Ratten sehr klug, fast so klug wie ich, aber nur fast!“

Möge der Buchwurm Euch alle verschonen
wünscht Euch
die liebkluge Selma

Last not least:

Happy Birthday Umberto Eco zu deinem achtzigsten Geburtstag heute! Weißt du, Masterchen ist ein großer Fan von dir, ja fast bist du sein Vorbild. Schon vor „Der Namen der Rose“ studierte er „Einführung in die Semiotik“ und dann beschäftigte er sich mit deinen Schriften zur Intertextualität. Aber da man nicht nur Hochkluges lesen kann, wendete er sich deinen Romanen zu, die er mit roten Bäckchen und Glitzeraugen las. – Siri BuchFee und der Master freuen sich auf Neues von dir, obwohl wir zugeben müssen, dass wir „Der Friedhof in Prag“ noch nicht gelesen haben.